Das kleine Vögelchen liegt nahezu reglos auf der Seite, die Füsse weit von sich gestreckt. Seine Blicke wirken leicht panisch, aber auch abwesend. «Vermutlich ein Schock», sagt Patrick Scherrer. Der Tierarzt untersucht den Haussperling von Kopf bis Fuss und schaut dabei, ob die Gliedmassen noch intakt sind. Eine Privatperson hat den Vogel vorbeigebracht, nachdem er in eine Fensterscheibe gekracht und liegen geblieben war. Seinen Untersuch lässt der Vogel protestlos über sich ergehen. «Er zeigt keinerlei Reaktionen, das ist kein gutes Zeichen», analysiert der Wildtierarzt. Ein Tierpfleger eilt herbei, um den Haussperling zu halten, während dieser von Patrick Scherrer eine Spritze kriegt. «Wir geben ihm ein paar Tage Zeit, in denen er sich erholen kann», so der Tierarzt. Währenddessen kommt er für ein paar Stunden in eine dunkle Schachtel mit ein paar Luftlöchern, wo er die Ruhe kriegt, die er braucht, und das Medikament wirken kann. Ob er es schaffen wird, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.

Survival of the fittest

Nicht einmal jedes zweite Wildtier, das in die Station kommt, wird wieder so weit gesund, dass es irgendwann ausgewildert werden kann. «Wenn wir beim ersten Untersuch sehen, dass das Tier sich nicht mehr komplett erholen wird, erlösen wir es», erklärt Patrick Scherrer. In freier Wildbahn hätten Invalide kaum Überlebenschancen. So müssen manchmal sogar Tiere eingeschläfert werden, die bereits monatelang auf der Station gepflegt wurden – und doch nicht vollends fit wurden. «Das sind Situationen, die für das ganze Team schwierig sind», gesteht der Tierarzt. Der letzte solche Fall sei ein Uhu-Weibchen gewesen. «Sie hatte eine Federwachstumsstörung, die partout keine Besserung zeigen wollte», erzählt Scherrer. «Wir haben viel Fachliteratur gewälzt und uns mit Kollegen ausgetauscht, doch wir fanden keine adäquate Therapie, die angeschlagen hat.»

Glücklicherweise sind solche Fälle die Ausnahme. 75 Prozent der Wildtiere, welche die ersten drei Tage überstehen, können am Schluss ihres tage-, wochen- oder gar monatelangen Aufenthaltes in der Wildtierstation Landshut wieder ausgewildert werden. «Das sind die schönsten Momente des Berufes», sagt Patrick Scherrer glücklich. «Kürzlich hatten wir einen Gänsegeier bei uns, den wir ins Wallis zurückbegleiten durften. Das ist schon was sehr Besonderes.»

Grösste Gehege für Raubvögel

Um solch grosse Vögel beherbergen zu können, sind Volieren vonnöten, die es hierzulande nur in der Wildtierstation Landshut gibt. Die letzten und grössten Gehege dienen bei Tieren jeweils als eine Art Trainingsraum, um genügend Fitness für die Auswilderung zu erlangen. Bei den Greifvögeln weisen diese Volieren eine Fläche von 300 Quadratmetern auf. Kleinere Tiere, die sich von Natur aus eher verstecken, anstatt mit ihrer Geschwindigkeit aufzutrumpfen, benötigen keine ganz so grossen Gehege.

Neben den häufigsten Gästen wie Singvögel, Igel und Eichhörnchen werden in der Wildtierstation Landshut auch Fledermäuse, Iltisse, Reptilien oder sogar Wildkatzen abgegeben. Für jagdbare Wildtierarten wie Füchse und Dachse sind lokale Wildhüter zuständig. Igel-, Vogel- und Fledermausstationen gibt es ebenfalls in vielen Kantonen. Die Stiftung Wildstation Landshut ist jedoch die Anlaufstelle in der Schweiz, die am meisten verschiedene Wildtierarten aufnimmt. Als solche ist sie in den letzten Jahren stark gewachsen. Mittlerweile pflegt das Team rund um zwei Tierärzte und sieben festangestellte Tierpfleger jährlich über 2500 Wildtiere. Über 50 Freiwillige helfen unter anderem bei der aufwendigen Aufzucht von Jungvögeln oder Fledermäusen mit. «Ohne sie ginge das nicht», erklärt Patrick Scherrer. «Da die Jungvögel teilweise mehrmals pro Stunde Nahrung brauchen, sind die Freiwilligen ständig mit der Fütterung beschäftigt.»

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Den Wildtieren etwas zurückgeben

Die übrigen Angestellten sowie der ganze Betrieb werden mithilfe von Spendengeldern bezahlt. Das bedeutet einen Kampf um jede grössere Investition. Aktuell läuft ein Crowdfunding für den Umbau der in die Jahre gekommenen medizinischen Einrichtungen. Im kommenden Winter soll auch endlich ein Röntgengerät angeschafft werden, um den Tieren stressige Transporte zu ersparen. «Wir werden oft gefragt, wofür wir den ganzen Aufwand eigentlich machen», erzählt Scherrer. «Uns geht es darum, den Wildtieren etwas zurückzugeben, weil wir Menschen ihnen sehr viel nehmen.» Da die meisten seiner Patienten zumindest indirekt durch den Menschen in diese Situation kamen, weiss der Tierarzt, wovon er spricht. So gebe er Leuten, die mit verletzten Igeln auftauchen, immer den Tipp, den Mähroboter nur tagsüber laufen zu lassen. «Wir empfehlen auch, keine Igel zu füttern», so der Wildtierarzt. «Denn wenn mehrere Igel sich an einem Futterplatz treffen, unterstützt das die Verbreitung von Krankheiten.» Es sei zwar normal, dass Igel ab und zu Parasiten hätten, jedoch nähmen diese für gewöhnlich nicht Überhand. «Igel sind Einzelgänger und bleiben normalerweise in ihren Revieren», so Scherrer. Wenn aber das Futter lockt, nehmen sie auch mal etwas Gesellschaft in Kauf. Mit teils schwerwiegenden Folgen. «Würmer können sehr gefährlich für Igel sein», weiss der Tierarzt. Trotzdem stellt er niemanden an den Pranger deswegen. «Die Leute meinen es nicht böse, es ist eben noch viel Unwissen vorhanden.»

Das Team der Wildtierstation müsse selbst aufpassen, damit sie die nötige Distanz zu ihren Patienten wahren. «Wenn wir merken, dass sie Menschen mit Futter in Verbindung bringen, gehen wir auf Abstand und füttern nur noch durch eine Luke», erklärt der Wildtierarzt. «Wir geben den Tieren auch extra keine Namen.» Rabenkrähen seien besonders anfällig auf Fehlprägungen, sagt Scherrer. «In einem solchen Fall nehmen sie uns Menschen als Artgenossen wahr», so der Tierarzt. «Bei der Geschlechtsreife entwickeln sie dann gestörte Verhaltensweisen und können sogar aggressiv werden gegenüber Menschen.» Doch bei den meisten anderen Tierarten besteht bei einer Handaufzucht keine Gefahr. «Sobald sie selbstständig werden, gehen sie ihren eigenen Weg und werden scheuer», erzählt Scherrer. So bevölkern immer wieder wenige Wochen alte Tierbabys der verschiedensten Arten die Wildtierstation. Das lässt auch den professionellen Tierarzt nicht kalt, der zugibt: «Der Jöh-Effekt verschwindet nie.»