Zugezogen oder ausgesetzt?
Graugänse haben sich in der Schweiz angesiedelt
Graugänse brüten erst seit 1983 in der Schweiz. Sie haben sich seither gut etabliert. Wo aber kamen sie her? Gehen die Bestände auf entflogene Hausgänse zurück oder sind sie zugezogen, um dazubleiben? Eine Spurensuche.
Sie heben sich kaum vom Acker ab. Zwei Graugänse schauen an einem frühen Frühlingsmorgen wachsam um sich, schnäbeln dann wieder in der Erde nahe dem Naturschutzgebiet Fanel am Neuenburgersee. Ihr braunes Gefieder tarnt sie perfekt. Nur ihre orangefarbenen Schnäbel leuchten. Später am Tag weidet eine ganze Schar auf einer Grasfläche. Ob es die gleichen Gänse sind, die dann gegen Abend auf einem Teich beim BirdLife-Naturzentrum La Sauge über die Wasserfläche brausend einfliegen?
Das Seeland mit seinen Weiten ähnelt dem nördlichen Verbreitungsgebiet der Graugans, beispielsweise dem deutschen Bundesland Schleswig-Holstein. Dort weiden Tausende Graugänse auf Grasflächen und ziehen sich in die zahlreichen Teiche und Seen mit ihren Schilfgürteln zurück. Auch in Grossbritannien, weiten Teilen Skandinaviens und einem breiten Gürtel durch Russland bis ans Japanische Meer kommt die Graugans natürlicherweise vor. Weniger erwarten würde man den Wasservogel in bergigem Gebiet. Doch auch bei Interlaken zupft im Frühling eine Gruppe von Graugänsen halb hohes Gras in gebührendem Abstand zum Waldrand, im Hintergrund ragen die Berner Oberländer Berge auf.
Das war nicht immer so. Noch vor 1990 kamen Graugänse in der Schweiz kaum vor. Stefan Bachmann von der Naturschutzorganisation BirdLife Schweiz erklärt, warum: «Die Brutpopulationen in der Schweiz sind zu einem grossen Teil auf aus Gefangenschaft entkommene Tiere zurückzuführen.» Der Ornithologe sagt, dass die erste Brut von Graugänsen in neuerer Zeit 1983 am Flachsee erfolgt sei und eindeutig auf ausgesetzte Vögel zurückgehe. Bachmann denkt, dass sich die Population von dort aus ausgebreitet hat. Er sagt: «Später brüteten Graugänse am Sempacher- und am Mauensee, danach am Zugersee.» Ab 2011 hätten Graugänse auch an etlichen anderen Seen gebrütet. «Von wo diese Graugänse jeweils genau zu diesen Seen hingelangten, ist unklar.»
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Die Schweiz liege am Südrand des europäischen Brutgebiets der Graugans, betont Stefan Bachmann. «Die nördlichen Populationen der Graugänse sind ausgesprochene Zugvögel.» Es sei durchaus möglich, dass auch solche Zugvögel mal in der Schweiz hängen bleiben würden, denn es gebe hier geeignete Lebensräume. Heute zögen Graugänse aufgrund milderer Winter und eines besseren Nahrungsangebots nicht mehr so weit südlich.
Die Schweizer Graugänse bleiben auch im Winter hier. «Die südlichen Populationen sind Standvögel», sagt Stefan Bachmann. Graugänse sind Pflanzenfresser und zupfen Gräser, Kräuter und teilweise auch Wurzeln. Sie bevorzugen Weiden mit durch Kühe kurz gehaltenem Gras. Dort fühlen sie sich sicher, denn sie können einen Feind wie den Fuchs frühzeitig erspähen. Im Spätsommer und Herbst schnäbeln sie auch auf abgeernteten Getreide- und Maisfeldern nach Körnern. Im Wasser gründeln sie nach Wasserpflanzen und Algen.
Mensch und Graugans sind verbunden
Grundsätzlich war das Schweizer Mittelland vor der Juragewässerkorrektion ideales Gebiet für Wasservögel wie die Graugans. So könne es durchaus sein, dass Graugänse auch schon früher Brutvögel hier waren, meint Stefan Bachmann. Er merkt an, dass im Mittelalter Gänse in Europa zahlreich als Nutztiere gehalten wurden. «Ob die Graugans ursprünglich ausschliesslich nördlicher verbreitet war und die südlichen Populationen sich erst durch das Nachhelfen des Menschen ansiedelten, kann ich nicht sagen.»
Stefan Bachmann vergleicht die Situation der Graugans mit derjenigen des Höckerschwans. Er erklärt: «Diese Populationen gehen ebenfalls auf ausgesetzte Vögel zurück. Dennoch sind Höckerschwäne bei uns mittlerweile weit verbreitete Brutvögel und von den nördlichen Wildvögeln phänotypisch nicht zu unterscheiden.» Das Erscheinungsbild, also der Phänotyp, der Graugänse in der Schweiz ist identisch mit demjenigen der Wildpopulationen im nördlichen Europa.
Gänse wurden in ihrem Aussehen züchterisch teilweise stark verändert. Dies hat mit der langen Domestikationsgeschichte zu tun. Gänsehaltung wurde bereits in der Antike praktiziert. Die Graugans gilt als die Stammform der verschiedenen domestizierten Gänse in Europa. Die Rassenbildung begann im19. Jahrhundert und zielte darauf ab, das Gewicht der Gans zu steigern. Heute werden viele Gänserassen unterschieden, die in jeweiligen Gegenden Europas herausgezüchtet wurden. Der Rassegeflügel-Standard für Europa führt 16 von der Graugans abstammende Rassen auf.
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Graugänse bereichern die Schweizer Vogelwelt seit knapp 40 Jahren. Ob sie wieder gekommen oder neu sind, lässt sich nicht mehr klären. Die wachsamen Vögel auf Feldern und an Gewässern inspirieren Menschen seit jeher. Schliesslich ist auch Nils Holgersson mit einer Hausgans dem Zug der wilden Graugänse gefolgt. Und Konrad Lorenz hat mit seinen Forschungen an Graugänsen Prägendes geschaffen. Im Buch «Vogelarten der Schweiz» von Carl’Antonio Balzari und Andreas Gygax ist die Graugans denn auch die einzige heimische Gans, die aufgeführt wird. Aus dem Zugerseegebiet sei bekannt, dass der Graugansbestand aufgrund von Forderungen aus der Landwirtschaft ‹gemanagt› werde, berichtet Stefan Bachmann. Ein Teil der Eier würde mit kantonaler Bewilligung entnommen. «Ohne Bewilligung wäre dies strafbar», betont der Ornithologe. BirdLife betrachtet die Anwesenheit der Graugans in der Schweiz nicht als Problem. So stolzieren kleinere Gruppen auf Weiden herum und fliegen schnatternd auch am Schweizer Himmel.
Gänse in der SchweizDurchzügler und seltene Irrgäste:
- Blässgans
- Kurzschnabelgans
- Ringelgans
- Saatgans
- Schneegans
- Brandgans
Neozoen, Flüchtlinge aus Gehegen, sind:
- Kanadagans
- Nilgans
- Rostgans
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