Die beiden am blauen Himmel fliegenden Gelbbrustaras gleichen mit ihren langen Schwänzen bunten Drachen. Ein Schwarm Sonnensittiche flitzt mit und scheint sie zu eskortieren. Grünzügelpapageien flattern aus dem Grün eines Busches. Solche Szenerien bieten sich nur in abgeschiedenen Gebieten Südamerikas – oder im sankt-gallischen Gossau. Das Flugtraining im Walter Zoo ist einzigartig in der Schweiz. Dort können nicht nur Papageien, sondern auch St. Galler Flügeltauben, ein Truthahngeier und ein Wüstenbussard frei fliegend bewundert werden.

Normalerweise werden Vögel in Volieren gehalten. Im Walter Zoo fliegen sie auch frei am Himmel und entfalten ihre Flugkünste. So gleitet plötzlich ein Schatten über die Köpfe, ein leichter Windzug, schon sitzt der grosse Greifvogel auf Dominic Kasts ausgestrecktem Arm. «Das ist Alanis, unser Wüstenbussard», sagt der Revierleiter Vögel des Walter Zoos.

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Alanis ist 18 Jahre alt und ein richtiger Routinier im Freiflug. Bis er und seine Vogelkumpane sich zu grossen Fluggenies entwickelten, damit sie nun ihre Runden am Sankt Galler Himmel ziehen können, war viel Arbeit, Geduld und Einfühlungsvermögen notwendig – und beidseitiges Vertrauen. Dominic Kast spricht die Vogelsprache. Der Vogelkenner hat das Flugtraining während vielen Jahren aufgebaut und führt es nun zusammen mit Kolleginnen und Kollegen regelmässig vor. Er erklärt: «Vögel haben keine Mimik, aber wir wissen doch, wie sie sich fühlen und können voraus-sehen, was sie vorhaben.» Der Spezialist mit umfassenden Kenntnissen beobachtet genau. Er weiss, was es bedeutet, wenn sie die Federn eng anlegen und sich aufrichten, wenn sich die Pupille verkleinert, sie sich aufplustern oder wenn sie plötzlich den Kopf schräg halten. Dominic Kast hat bereits als Kind Vögel gehalten und sich mit ihrem Verhalten intensiv auseinandergesetzt. Vor 20 Jahren begann er damit, Vögel zu trainieren.

«Wenn die Aras ca. 80 Meter über einem fliegen, dann erzeugt das Hühnerhaut», beschreibt Dominic Kast das emotionale Erlebnis, die tropischen Vögel frei fliegend zu sehen. Er merkt an: «Der Vogel entscheidet in diesem Moment selbst, was er macht.» Dass er überhaupt so gut fliegen kann, ist nicht selbstverständlich. Auch ein Vogel muss das zuerst lernen, wie ein Mensch das Gehen.

Vertrauensbasis ist essenziell

Alle Vögel, die im Walter Zoo frei fliegen, kamen als Jungtiere ins Training. Manche, wie etwa Alanis, wurden von Hand aufgezogen. Die Gelbbrustaras, die nach ihrer ersten Runde am weiten Himmel nun so ruhig auf Dominic Kasts Arm sitzen, wurden von ihren Eltern aufgezogen und kamen erst, nachdem sie selbständig wurden, in sein Training. Ein Vogel wahrt normalerweise Distanz zum Menschen. Was Dominic Kast mit den beiden Gelbbrustaras gelingt, ist nur dank sehr engem Verhältnis und grossem gegenseitigen Vertrauen möglich.

Wenn die Vögel nicht richtig reagieren, sei das immer sein Fehler. «Es gibt keine dummen Vögel, sondern nur dumme Trainer», sagt Kast und betont: «Ein Vogel soll Freude dabei empfinden, zum Pfleger zurückzufliegen.» Er belohne gewünschtes Verhalten mit einem Leckerbissen. «Alanis fängt sie gerne im Flug», sagt der Vogelflüsterer. Aras seien erpicht auf Nüsse, der Truthahngeier liebe Fischstücke, die Sonnensittiche gierten nach Sonnenblumenkernen. Jeder Art ihren kulinarischen Genuss. «Wir lassen die Vögel aber nicht hungernd fliegen, damit sie zu uns zurückkehren.» Die Freiflieger hatten alle vor dem Flugtraining volle Futternäpfe in ihren kombinierten Innen- und Aussenvolieren. Dominic Kast erläutert: «Wäre das Futter der einzige Grund für die Vögel, zu uns zurückzukehren, würden sie, wenn Gefahr droht, Reissaus nehmen.»

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In den Trainings geschieht Unvorhersehbares.«Jedes Mal ist es wieder anders», sagt der Trainer Kast. Darum sei es wichtig, dass eine gute Kommunikation zwischen Vogel und Trainer bestehe. «Die Vögel sollen kein Programm abspielen. Am Ende entscheiden sie, was sie machen.» Wenn plötzlich ein Mäusebussard während eines Flugtrainings am Himmel kreist, flattern die kleinen Grünzügelpapageien blitzschnell in einen Busch. «Das ist völlig richtig», sagt Dominic Kast. Als Kleinpapageien sind sie Beutetiere, die sich in Acht nehmen müssen. Sie leben im dichten tropischen Regenwald. Im Gebüsch sind sie getarnt.

Ausser den grossen Aras haben die meisten Papageien Feinde. Wenn also acht Sonnensittiche am Himmel fliegen, halten 16 Augen nach möglichen Angreifern Ausschau. «Ein Warnschrei genügt, und die ganze Gruppe schiesst wie ein Pfeil davon», erzählt Dominic Kast, während die Sittiche nacheinander auf Ästen oberhalb eines Palisadenzauns landen und nun wirken wie gelbe Blüten in einem Baum. Der kleine Trupp hat für heute genug und möchte in die Voliere zurück, dies, obwohl auf einem Baumstamm Sonnenblumenkerne für sie ausgestreut sind. Im Hintergrund ruft die stellvertretende Revierleiterin für Vögel, Nathalie Streich, die bunten Südamerikaner einzeln in ihre Voliere zurück.

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Kenntnisse zur Freilandbiologie

Wo sind Emma und Lucy, die beiden Gelbbrustaras? «Sie fliegen oft weit weg», sagt Dominic Kast. «Sie sind intelligent und wissen genau, wie sie Luftströmungen und Windverhältnisse ausnützen können.» So würden sie an heissen Sommertagen über dem Parkplatz aufsteigen. Es ist energiesparender für sie, mit den warmen Luftströmen an Höhe zu gewinnen. Es komme auch vor, dass sie gar keine Lust zum Freiflug hätten. Plötzlich tauchen sie am entfernten Waldrand als Punkte auf und landen schliesslich bei Dominic Kast. Die Art, wie er sich positioniert, macht es den Vögeln einfach. «Wenn wir sie auf den Flug schicken, helfen wir ihnen mit dem Arm nach. So wird es für sie attraktiver, von unserem Arm wegzufliegen, als von einem Ast.» Es sind viele solcher Feinheiten, die zum Flugtraining gehören.

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Neustes Mitglied des Flugtrupps ist Tiskani, ein Truthahngeier. Er ist noch jung und lernt. Etwas schwerfällig flattert er über die Köpfe der Besucher und äugt dann auf dem Arm des Trainers um sich. «Er verhält sich völlig anders als Papageien oder Greifvögel», erklärt Dominic. «Geier haben eine Hackordnung untereinander, sie entscheiden von Situation zu Situation.» Darum stelle er sich jedes Mal wieder neu auf Tiskani ein. Ganz anders bei Alanis, dem Wüstenbussard, der in der Natur in Gemeinschaft jagt. Aras belohnt Kast stimmlich. Kast geht auf jede Vogelart individuell ein. Er sagt: «So überlegt sich der Vogel, wie er mehr Aufmerksamkeit erhält.»

In dem bunten Farbenreigen gehen die St. Galler Flügeltauben fast unter, die gleich zum unteren Teil des Zoos zurück in ihren Schlag flattern. Alanis reklamiert. «Ihm reichts, er will in seine Voliere zurück», sagt Dominic Kast und trägt den auf seinem Arm sitzenden Greifvogel in sein Domizil. «Die Vögel entscheiden, was sie machen, wir trainieren mit ihnen, es ist keine Show.» Ein emotionales Erlebnis in der Ostschweiz!

FreiflugtrainingWenn das Wetter mitspielt, finden die Freiflugtrainings immer am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag sowie an gesetzlichen Feiertagen um 14 Uhr im Walter Zoo, Neuchlen 200, 9200 Gossau (SG), statt.