Auf den Spuren der Verwandlungskünstler
Vom Leben der Schmetterlinge im Berner Oberland
In der Schweiz kommen besonders viele Schmetterlingsarten vor. Sie verteidigen Territorien, locken mit Duftstoffen, ziehen über die Alpen und hören mit Flügeln. Auf den Spuren der erstaunlichen Gaukler an Bergwiesenhängen.
Kaum zu glauben, was Hans-Peter Wymann aus dem steilen Hang alles herauskitzelt. Nach wenigen Minuten in der blühenden Magerwiese hat er schon über zehn Schmetterlingsarten entdeckt. Jetzt ruft er: «Hier, ein Zwergbläuling!». Er schwärmt: «Bläulinge gefallen mir seit jeher besonders.» Aus dem Grün funkelt ein azurblauer, kleiner Falter wie ein Lapislazuli. Dann macht Wymann ein Kleines Wiesenvögelchen aus, erwähnt nebenbei, dass es davon acht Arten gebe, zwei davon seien in der Schweiz ausgestorben, einer Art gehe es schlecht, eine weitere sei auf dem Weg dazu. Der Schmetterling klappt seine orange schimmernden Flügel zu und gaukelt davon. Doch da segelt schon der Wegerich-Scheckenfalter heran. «Eine sehr wärmeliebende Art», kommentiert der 67-Jährige den Schmetterling mit orangen Flügeln, die von einem unregelmässigen Schachbrettmuster überzogen sind.
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Hans-Peter Wymann ist ein wandelndes Lexikon, was Schmetterlinge betrifft. Und mit den Schmetterlingen erschliesst sich ihm eine ganze Welt. Vegetation, Geografie, Geologie, Erdzeitalter und Landwirtschaft sind Themen, welche in die Schmetterlingskundegreifen.
Auf den ersten Blick wirkt die sonnenbeschienene Bergwiese friedlich und leer – kaum vorstellbar, dass hier Schmetterlinge flattern sollen. Doch für Hans-Peter Wymann ist die stotzige Bergmatte ein offenes Buch voller Leben und Informationen. «Bei mir ging das schon als Kind los mit den Insekten», erinnert sich der grauhaarige Mann mit Schnauz. Er sei bereits im Alter von vier Jahren mit Netz in der Wiese gestanden und habe Schmetterlinge gefangen. So wie jetzt gerade wieder, an diesem schönen Frühlingsvormittag im Mai oberhalb der Bahnstation Burglauenen im Lütschental. «Hier am Hintisberg ist eines der besten Gebiete für Schmetterlinge», betont der Experte. Das Berner Oberland reize ihn seit Jahrzehnten besonders, da hier nie systematisch Schmetterlinge erforscht worden seien; anders als beispielsweise im Wallis.
«Schmetterlinge sind perfekte Bioindikatoren.»
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Der Frühling beginnt gerade erst auf über 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Die Blätter an Erlen, Weiden und Ebereschen spriessen hellgrün, ein Kuckuck ruft, die Weidenmeise flötet. Die Bäume gedeihen inselartig. Dazwischen spriessen verschiedene Gräser. Blumen, wie die Salbei, Nelkenarten, Esparsetten, Knautien, Margeriten, Flockenblumen, Horn- und Hufeisenklee sowie Natternköpfe blühen; eine Orgie an Farben. Die Weiden sind von Felsen durchsetzt, in einem Taleinschnitt gedeiht dunkler Tannenwald. «An diesem Hang hier kommt mehr als die Hälfe aller Schweizer Tagfalterarten vor», sagt Hans-PeterWymann. Ideales Schmetterlingsgebiet also.
Während der Schmetterlingskenner die Wiese nach Insekten absucht, stapft aus dem Taleinschnitt ein Bauernpaar. Hans-Peter Wymann grüsst und ruft ihnen zu: «Ich ziehe den Hut vor Ihnen. Was Sie hier machen, ist grossartig!» Der Schmetterlingskenner lobt die extensive Bewirtschaftung des steilen Geländes: «Würden Sie die Flächen durch Ihre Arbeit nicht offenhalten, würden sie rasch von den Bäumen zugewachsen, die Artenvielfalt an Schmetterlingen verschwände innerhalb weniger Jahre.»
Wer Schmetterlinge liebt, muss Raupen mögenDer Schmetterling ist ein Verwandlungskünstler. Er zeigt sich als farbig gaukelnder Falter und Blütenbesucher. Doch bevor er dieses Stadium erreichen kann, braucht es das Ei. Daraus schlüpft eine Raupe, die sich satt frisst und verpuppt. Die Metamorphose verläuft also in vier Stufen. Der Schmetterling ist die mobilste Phase der Entwicklung. Darum fallen Paarung und Eiablage in diese Zeit. Wer die Metamorphose aus nächster Nähe erleben möchte, sammelt beispielsweise an Brennnesseln Raupen. Es handelt sich um die Raupen des Kleinen Fuchses. Sie müssen stetig mit frischen Brennnesseln gefüttert werden und sollten in einem mit Vorhangstoff überzogenen Plastikaquarium herangezogen werden. Haben sie sich verpuppt, bleiben die Stängel mit den Puppen im Behälter. Bei sommerlicher Wärme schlüpfen nach etwa zwei Wochen bereits Schmetterlinge. Sie sollten dort freigelassen werden, wo die Raupen gesammelt wurden. In Naturschutzgebieten ist das Sammeln von Raupen und Pflanzen verboten.
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Ja, es sei tatsächlich anstrengend, hier zu heuen, sagt Res Bohren aus Burglauenen. Er und seine Frau Kathrin müssen das Gras teilweise mit der Sense mähen, es sei viel Handarbeit dabei. Unumwunden gibt der Landwirt zu: «Würden wir nicht Unterstützung erhalten, könnten wir das nicht machen.» Das Land stammt von Kathrin Bohrens Grosseltern und wird bis heute ähnlich bewirtschaftet, wie das ihre Vorfahren machten. Gras wird nicht vor dem 15. Juni gemäht, junge Bäume, die in den Weiden gedeihen, werden ausgemacht oder umgesägt. Das sogenannte Schwenten verhindert, dass die Alpweiden zuwachsen.
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Hans-Peter Wyman erläutert: «Es ist essenziell, dass die Wiesen gemäht werden, doch sollte dies erst geschehen, nachdem die Blumen geblüht und abgesamt haben.» Eine Beweidung durch Rinder oder Kühe sei ebenfalls eine gute Möglichkeit, die Flächen offen zu halten. Trittstellen von Vieh würden neue Lebensräume schaffen, die Kuhfladen würden rasch abgebaut. Kleinere Herden könnten länger auf den Weiden bleiben, für grössere empfehle sich eine kurzfristige Beweidung. Hans-Peter Wymann erwähnt ein Beispiel oberhalb von Blumenstein, ebenfalls im Berner Oberland. «Dort weiden auf 40 Hektaren knapp 50 Kühe und Rinder, es ist eine der artenreichsten Flächen.»
Schmetterlingsvielfalt in Schweizer Bergen
Die Landwirtschaft in den Bergen hat eine wichtige Funktion für die Artenvielfalt. Als noch kaum Menschen die Landschaft besiedelten, entstanden durch die Natur immer wieder neue Lebensräume, etwa durch Erdrutsche, Stürme, Waldbrände und Überschwemmungen. Zudem sorgten grosse Tierherden, beispielsweise Wisente, für offene Flächen. Viele Schmetterlingsarten kommen gerade dort vor. Weil heute Grosstiere wie Wisente fehlen, hat der Mensch eine wichtige Funktion für Steppenarten eingenommen. In den Walliser Felsensteppen und am Hintisberg prosperiert deshalb die Schmetterlingsvielfalt noch, nicht zuletzt auch dank schonender, landwirtschaftlicher Nutzung.
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«Eine solch grosse Schmetterlingsvielfalt, wie wir sie hier sehen, war einst auch im Schweizer Mittelland vorhanden», sagt Hans-Peter Wymann. Das sei allerdings lange her. Die intensive Landwirtschaft trug zum Artenschwund bei; durch Überbauungen verschwanden zudem grossflächig artenreiche Lebensräume. Wird eine Wiese mit Gülle gedüngt, wächst bald eiweissreiches Gras, viele hoch spezialisierte Kräuter werden dadurch verdrängt. Löwenzahn ist ein Indiz dafür. Die meisten Schmetterlingsarten aber benötigen Magerwiesen oder nährstoffarme Feuchtwiesen. Ein Problem für Schmetterlinge im Unterland ist auch der frühe Schnitt. Die Nektarquellen fallen weg, da Blumen so nicht zum Blühen kommen und Nahrungspflanzen für die Raupen fehlen. Am Hintisberg ist dies alles anders, nämlich so, wie es vor rund einem Jahrhundert an vielen Orten in der Schweiz noch war.
Zur grossen Schmetterlingsvielfalt trägt das kalkhaltige Gestein bei. Auf Kalkgestein würden besonders viele Pflanzenarten gedeihen, kommentiert Hans-Peter Wymann. Für ihn ist die Schweiz vielerorts noch ein Schmetterlingsparadies. Er sagt, wieso: «Auf kleinem Raum kommt hier eine für Mitteleuropa maximale Artenvielfalt vor. Während Kandersteg zoogeographisch eher an Skandinavien erinnert, ist das Wallis schon mediterran.»
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Der Schmetterlingsfachmann untersucht das Gebiet am Hintisberg seit zwölf Jahren systematisch. «Ich habe während dieser Zeit keine negativen Veränderungen in den Beständen festgestellt.» Im Gegenteil, zwischenzeitlich seien auch wärmeliebende Arten im Gebiet aufgetaucht. «Etwas ganz Spannendes ist da dieTageulchenart Panemeria tenebrata.» Vermutlich sei sie ein Wärmeprofiteur, denn der Schmetterling sei früher eher aus tieferen Lagen bekannt gewesen und flattere nun auch am Hintisberg. «Schmetterlinge sind perfekte Bioindikatoren, wobei die Artenvielfalt von den botanischen Voraussetzungen abhängt.» Die Artenfülle sei so gross, weil Schmetterlinge fähig seien, sich kleinräumig einzunischen.
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Wissenschaftliche Zeichnungen für Klarheit
«Hier, ein Apollofalter!», ruft Hans-Peter Wymann plötzlich begeistert und fügt hinzu: «Eine ikonische Art der Alpen.» Er stapft los, schwingt seinen sackartigen Kescher an der langen Stange und schon ist der Falter gefangen. Vorsichtig holt er ihn zwischen zwei Fingern heraus. «Das sind sehr robuste Tiere», kommentiert er und weist auf den stark behaarten Körper hin. «Ein Schutz vor der Kälte in den Bergen. Das hier ist ein Männchen. Weibchen sind etwas weniger behaart.» Tatsächlich sieht der Thorax pelzig aus. Bald darauf flattert das Tier unbekümmert im Sonnenlicht zu einer Flockenblume.
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Schmetterlinge seien wechselwarme Tiere, wie Reptilien, erklärt Hans-Peter Wymann. «Darum sind Tagfalter auch nur bei Sonnenschein zu sehen.» Werde es plötzlich kälter – ein häufiges Ereignis in den Bergen – dann würden sich die Falter in den Grashalmen oder unter Steinen verstecken, den Haushalt herunterfahren und warten, bis die Wärme wieder komme.
Tag- oder Nachtfalter?Schmetterling ist der Überbegriff. Es wird zwischen Tag- und Nachtfaltern unterschieden. In der Schweiz gibt es etwa 3800 Schmetterlings- oder Falterarten. Nur etwa 200 davon sind Tagfalter. Es ist nicht so, dass Nachtfalter nur in der Nacht fliegen. Etliche haben ihre ökologische Nische während des Tages. Ein gutes Unterscheidungsmerkmal sind die «Fühler» am Kopf, die in Wirklichkeit Riechorgane sind. Bei Tagfaltern sind sie vorne verdickt. Nachtfalter haben gerade, unverdickte Antennen oder aber, sie sind gefiedert. Der Schmetterlingsexperte Hans-Peter Wymann sagt: «Zum Tagfalter geht man, der Nachtfalter kommt zu einem.» Je höher der UV-Anteil im Licht sei, desto besser.
Der Apollofalter sei der einzige kontinentaleuropäische Tagfalter, der im Washingtoner Artenschutzübereinkommen im Anhang I aufgeführt sei. Dies bedeutet, dass er gefährdet ist. «Es handelt sich um einen typischen Alpenfalter. Wir haben drei Arten im Berner Oberland.» Apollofalter waren der Grund, weshalb Hans-Peter Wyman einst ins Himalaja-Gebiet reiste. Während 25 Jahren betreute der Entomologe die Schmetterlingssammlung des Naturhistorischen Museums Bern. «Dort lagern etwa eine Million Schmetterlinge», sagt er. Das älteste Exponat stamme von 1790; ab 1840 sei dann intensiver gesammelt worden. Es handle sich um Schmetterlinge aus der ganzen Welt.
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Der ehemalige Lehrer und Insektenkundler hat sich zudem zum wissenschaftlichen Zeichner ausbilden lassen und hat alle sogenannten Grossschmetterlinge der Schweiz gezeichnet. «Für die Bestimmungsliteratur sind generalisierte Abbildungen oft hilfreicher als Fotos», erklärt Hans-Peter Wymann. Die Illustrationen heben wichtige Details hervor, Unwesentliches werde eher zurückgenommen. Auch das Zeichnen von Schmetterlingen ist ihm von Kindheit an geblieben. Schmetterlinge faszinierten ihn nämlich dermassen, dass er bereits als Bub ein Heft mit dem Titel «Schmetterlinge der Welt» schuf, mit akkuraten Zeichnungen.
Auch heute noch sammelt Hans-Peter Wymanngezielt einzelne Schmetterlinge. Dank systematischen Sammlungen lassen sich Artenveränderungen feststellen – wichtige Angaben für den Naturschutz. «Man merkt so, wenn eine Art in einen genetischen Flaschenhals läuft und kann darum Biotope vernetzen», sagt der Schmetterlingskenner. Wichtig seien Angaben wie Höhe, Standort und das Datum. Hans-Peter Wymann findet: «Wenn man systematisch Entomologie betreiben will, muss man auch sammeln, selbst heute noch, denn etliche Arten lassen sich erst als Präparat korrekt bestimmen, und für genetische Studien sind Präparate unerlässlich.» Er ist nicht nur Fachautor, ihm zu Ehren sind auch drei Tierarten benannt, ein Käfer aus Samos, ein Schmetterling in der Mongolei und eine Wespe aus Skandinavien. Die Koryphäe präsidierte zudem während 17 Jahren den Entomologischen Verein Bern.
Von Pheromonen und Revieren
Das wissenschaftliche und verantwortungsvolle Sammeln ist unproblematisch für den Schmetterlingsbestand. Die meisten Arten leben als Schmetterling nämlich nur kurze Zeit. «Hier ein Dickkopffalter, ein älteres Exemplar!», ruft Hans-Peter Wymann, während der Schmetterling mit blassbraunen Flügeln und dunklem Saum über Gräser surrt. Er sehe es an den Farben, ob ein Schmetterling alt oder jung sei.
Alt bedeutet zehn Tage. «Schmetterlinge verlassen die Puppe und suchen sofort einen Partner. In der Regel legen sie nur während kurzer Zeit Eier.» Ein extremes Beispiel ist das Nachtpfauenauge, ein typischer Nachtfalter. Das Männchen hat befiederte Fühler. Schlüpft dieser Schmetterling aus dem Kokon, lebt er nur wenige Tage. Das einzige Ziel: Einen Partner finden und sich fortpflanzen. Nachtpfauenaugen haben nämlich weder Mundwerkzeug noch Verdauungstrakt. Sie leben allein von Reserven, die sie sich als Raupe angefressen haben.
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Wie Schmetterlinge ihre Partner finden, ist ein Phänomen. Da ist einmal das Optische. «Sie reagieren vermutlich auf Bewegung. So fliegen Weisslinge weissen Schmetterlingen nach.» Doch Schmetterlinge haben auch akustische Fähigkeiten. So würden Augenfalter mit ihren Flügeln hören. Heute sei bekannt, dass Falter auch im ultravioletten Bereich gut sehen würden. «Oft führen aber Pheromone die Partner zusammen.» Hans-Peter Wymann bringt ein Beispiel: Setze man Duftstoffe des weiblichen Kleinen Nachtpfauenauges aus, daure es oft nur wenige Minuten, bis Männchen auftauchen würden. «Das Weibchen gibt bei dieser Art nur Pheromone ab, bis die erste Kopulation stattgefunden hat.» Dann lege es die Eier an Brombeeren, Schwarzdorn oder Mädesüss, flattere noch einige Tage weiter, bis es von einem Vogel erbeutet oder sonst wie sein Leben aushauche. Natürliche Feinde der Schmetterlinge sind Parasitoiden wie Schlupfwespen, Raupenfliegen, Viren, Bakterien, das Wetter und Vögel. Weiter werden sie von Eidechsen, Libellen oder der Schmetterlingshafte erbeutet. Das Insekt mit dem komischen Namen ernährt sich von Schmetterlingen.
Wenn ein Schmetterlingsweibchen nicht kopulieren wolle, drücke es die Flügel nach unten und richte den Hinterleib nach oben. Das Männchen lasse sofort von ihm ab. Duftstoffe werden beim Weibchen hauptsächlich im Bereich der Geschlechtsorgane produziert, bei Männchen vielfach auf den Flügeln. Es sieht so aus, als ob Schmetterlinge aus purer Lebensfreude und zu unserer Ergötzung durch die Luft gaukeln würden, scheinbar ziellos, von Blüte zu Blüte. Hans-PeterWymann macht darauf aufmerksam, dass viele Arten Reviere verteidigen würden. Er stellt klar: «Konkurrenten werden weggejagt.» Wenn zwei Schmetterlinge einander folgen und es aussieht, als würden sie in der Luft tanzen, dann handelt es sich um einen Paarungsflug oder um ein Reviergefecht. Es gibt auch standorttreue Arten. «Feuerfalter im Gantrischgebiet beispielsweise sitzen jedes Jahr am selben Ort.»
«Damit Spermien reifen können, benötigen die Männchen Mineralsalze, so eine gängige Lehrmeinung. Darum findet man dort, wo Kühe um eine Tränke stehen und ihre Ausscheidungen absetzen, viele Schmetterlinge, stets Männchen», erklärt der Kenner. Er befindet sich jetzt beim Berghaus Hintisberg auf etwa 1782 Meter über dem Meeresspiegel. Klares, eiskaltes Wasser schiesst in einen Blechtrog. Im Mai ist die Alp noch nicht bestossen. Sobald aber die Kühe da sind, flattert hier der Grindelwaldner- oder Sudeten-Mohrenfalter mit der schönen wissenschaftlichen Bezeichnung Erebia sudetica inalpina. «Das Erstaunliche an diesem Schmetterling ist, dass es ihn in der Form inalpina weltweit nur hier gibt. Die nächsten Verwandten stammen aus der Gegend von Grenoble in Frankreich», schwärmt Hans-Peter Wymann und merkt an, dass die französische Population genetisch anders sei. Wymann inventarisiert im Auftrag von Ökobüros die Schmetterlingswelt, auch am Hintisberg. Dort sind teilweise Solaranlagen geplant, doch wegen dieser endemischen Schmetterlingsart werden sie nicht am ursprünglichen Standort gebaut. «Es gibt keine soliden Studien zum Einfluss eines Solarparks auf die Pflanzen- und Insektensoziologie in intakten alpinen Lebensräumen», gibt Hans-Peter Wymann zu bedenken. Er erwähnt beispielsweise den Schattenwurf der Paneele als möglichen beeinflussenden Faktor.
Bei Wärme an die Bergnordwände
In der Schweiz ausschliesslich im Berner Oberland kommt der Schneemohrenfalter oder Eismohrenfalter (Erebia nivalis) vor. «Er flattert vom Faul- bis zum Schilthorn», merkt der Schmetterlingsexperte an. Dieser Schmetterling lebt an Schutthalden mit Pflanzeninseln. Es handle sich möglicherweise um die einzige Tagfalterart, welche die Eiszeit bei uns in den Alpen überdauert habe. Noch vor 10 000 Jahren bedeckte eine bis 2000 Meter hohe Eisdecke weite Teile der Schweiz. Die grosse Frage ist, woher die Falter kamen, die das Land nach dem langsamen Rückzug der Gletscher wieder besiedelten. «Sie überlebten rundherum in eisfrei gebliebenen Gebieten», sagt Hans-Peter Wymann. Das St. Petersburger Braunscheckauge ist ein Hinweis für diese Theorie, denn die boreoalpine Art kommt heute in Europa nur noch in Skandinavien, Russland und in höheren Gebirgszügen, wie es sie in der Schweiz gibt, vor. Als es nacheiszeitlich wärmer wurde, wanderte die Art in diese kühleren Regionen ab, wo sie heute noch überleben kann.
Wie verbringen Schmetterlinge den Winter?Je nach Art, überwintern die Schmetterlinge unterschiedlich. Der Zitronenfalter beispielsweise überdauert die Kälte als Schmetterling, beispielsweise in einer Holzritze eines Baumstamms oder einem Efeudickicht. Dank eingelagertem Glyzerin gefriert das Blut nicht. Admiral und Distelfalter verhalten sich wie Zugvögel. Sie ziehen im Winter in den Süden, ins Mittelmeergebiet. Wieder andere Arten überwintern als Puppe, wie der Schwalbenschwanz, oder als Raupe, wie der Kaisermantel, wenige sogar als Ei, wie der Nierenfleck-Zipfelfalter.
Viele Falterarten des Schweizer Alpenbogens stammten oft von Populationen aus dem Jura ab, faszinierend aber sei, dass einige Arten, beispielsweise im Simmental, aus einem vollkommen anderen Genpool kommen. Hans-Peter Wymann fiel bei seinen Untersuchungen an der Berner Museumssammlung auf, dass sie von ihrem Erscheinungsbild her eher mit Arten aus dem Rhonetal verwandt sein müssen. Der Frühlings-Würfelfalter, der ebenfalls am Hintisberg segelt, ist ein Relikt aus Pangäa, dem Urkontinent, der einst eine riesige Landmasse bildete. «Die meisten Verwandten dieses Falters leben sonst in Süd- und Nordamerika», sagt Hans-Peter Wymann.
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Die Frage stellt sich auch, wie kälteliebende Arten in den Alpen künftig überleben, so wie beispielsweise eben die Mohrenfalterarten. Hans-Peter Wymann ist der Frage auf die Spur gekommen, als er sich mit dem sogenannten Atlantikum beschäftigte, einer Warmzeit nach der letzten Eiszeit, als es phasenweise wärmer war als heute. «Möglicherweise haben sie sich damals an die Nordflanken der Berge zurückgezogen, sonst wären sie nicht mehr hier.» Da die Erwärmung heute deutlich schneller erfolge als vor 10 000 Jahren, sei es fraglich, ob alpine Schmetterlinge genügend Zeit haben, um sich anzupassen.
«Da fliegt ein Hufeisenklee-Gelbling vorbei»,kommentiert Hans-Peter Wymann das Treiben am Alpenhang. Die gelblichen Schmetterlinge fliegen schnell, um ihren Nektarbedarf zu decken. Auch der Brombeer-Zipfelfalter zeigt sich, ein kleiner Schmetterling mit smaragdgrüner Unterseite und schwirrendem Flug. «Ein Kuriosum», merkt der Schmetterlingsforscher an, denn eigentlich seien die Tropen das Reich der Zipfelfalter. «In Europa ist dies die einzige Art aus der Gruppe der grünen Zipfelfalter.» Die Flügel schillern und blinken. Tatsächlich, ein Hauch der Tropen am Hintisberg! Spektakulär ist auch, dass die Raupen der Zipfelfalter ultraviolettes Licht reflektieren. Tropische Schmetterlinge seien oft gross und farbig, doch das sei mit höherem Energieaufwand verbunden, der dank tropischen Temperaturen möglich sei.
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Ein weiblicher Himmelblauer Bläuling flattert vorbei, mit bräunlichem Anflug auf den Flügeln und orange-rotem Saum. Einer von Hans-Peter Wymanns Lieblingen. Er zitiert den Anfang von Hermann Hesses Gedicht: «Flügelt ein kleiner blauer Falter vom Wind geweht, ein perlmutterner Schauer, glitzert, flimmert, vergeht.» Das schneebedeckte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau ragt auf der anderen Talseite in den Himmel. Alpenblumen funkeln im Sonnenlicht. Und immer wieder sind da die Gaukler, die scheinbar schwerelos umhersegeln. Ein Tag mit dem Schmetterlingsforscher im Falter-Eldorado.
BuchtippEdelgard Seggewisse / Hans-Peter Wymann: «Schmetterlinge entdecken, beobachten, bestimmen – Die 160 häufigsten tagaktiven Arten Mitteleuropas».
376 Seiten, Haupt-Verlag
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