Frau Marioth, wie viel wussten Sie über die Hundehaltung und -erziehung, als Sie Helmut zu sich holten?

Ich dachte, viel (lacht). Ich hatte ja Hunde seit ich neun Jahre alt war.

Können Sie Beispiele nennen, wann Helmut Sie besonders auf die Probe gestellt hat?

Wo soll ich da anfangen? Helmuts grösste Herausforderungen waren, dass er permanent gestresst war. Er hat alles, aber wirklich alles, zerstört und auch gefressen. Er kam kaum zur Ruhe und hatte bereits als sehr junger Hund Angst vor Händen. Helmut war sehr umweltunsicher und hatte lange Probleme mit Trennungsangst.

Sie haben sich nicht nur informiert, sondern innerhalb kürzester Zeit ein eigenes Trainingsprinzip namens «KEML» entwickelt. Was fehlte Ihnen bei den anderen Trainingsphilosophien?

Ich hatte mir Hilfe bei Trainern gesucht. Wegen Helmuts Rasse habe ich viele Absagen kassiert mit Aussagen wie «Solche Hunde nehmen wir nicht». Die Trainer, die uns aufnahmen, hatten als Lösung «Dem musst du mal ordentlich Bescheid sagen» und das sollte dann in körperlicher Korrektur enden. Jetzt habe ich mit Helmut aber einen Hund, der auf der einen Seite aufgrund seiner traumatischen Welpenaufzucht bereits Ängste mitbrachte und auf der anderen Seite sollte ich diesem Hund emotionale und psychische Gewalt antun. Aus meiner Karriere in der Hospitality, als ich viele komplexe und diverse Teams geführt habe, wusste ich: Wenn du dich durchsetzen musst, hast du ein anderes Problem. Menschenführung klappt auch nicht mit Gewalt. Also habe ich mich für eine Hundetrainer-Ausbildung entschieden. Ich bin über ein Jahr quer durch den deutschsprachigen Raum gereist und auf viel Ideologie statt echtes Wissen gestossen. Mir fehlte die wissenschaftliche Kompetenz, also das basierte Wissen über Lernverhalten. Deshalb habe ich mein eigenes Prinzip entwickelt, das auf Kompetenz, Empathie, Motivation und Leistung (= KEML) basiert. Das ist der Anspruch an meine tägliche Arbeit.

Was sind die häufigsten Fehler, die Hundehalter mit traumatisierten Hunden machen?

Ich erlebe in meinen Anamnesegesprächen zwei Extreme: Jedes Verhalten des Hundes wird entschuldigt: «Bello kann das nicht, weil …», und es wird auch nicht daran gearbeitet. Das andere Extrem ist, dass versucht wird, Trauma mit Trauma zu heilen. Das heisst, ein eigenes menschliches Trauma soll durch den Hund geheilt werden. Hier habe ich es dann oft mit Angstbewältigung auf beiden Seiten zu tun. Da die gesundende Mitte zu finden im Training – das ist die Kunst.

Wie wichtig ist es, von Beginn weg konsequent zu sein?

Konsequenz bedeutet für die meisten: Durchsetzungsvermögen. Für mich bedeutet Konsequenz, nachhaltig zu trainieren. Das heisst, ich verfolge konsequent einen Plan, ich bleibe dran und gebe nicht auf. Individualität ist der Schlüssel. Jedes Team ist anders, jeder Mensch hat ein anderes Gespür für Timing und andere körperliche Voraussetzungen. Jeder Hund ist ebenso individuell. Genauso muss ein gutes Training aufgebaut sein, damit ich zu einem tollen Team mit einer echten Bindung zusammenwachsen kann.

Gibt es denn Bindungen zwischen Mensch und Hund, die nicht echt sind?

Ja, mehr, als man sich vorstellt. In vielen Köpfen herrscht noch die überalterte Dominanztheorie aus den 60er-Jahren vor, à la «Der Hund muss funktionieren». Strafbasiertes Training führt zu Unberechenbarkeit der Handlungssouveränität. Ein Grund, warum beispielsweise die Schweizer Polizeibehörden ihr Trainingskonzept auf positive Verstärkung umgestellt haben: Es schafft mehr Verlässlichkeit auf beiden Seiten. Ich erlebe immer toxische Beziehungen vom Menschen zum Hund. Da bekommt der Hund unausgesprochene Arbeitsaufträge, denen er eventuell aufgrund seiner individuellen Herausforderungen emotional überhaupt nicht gewachsen ist, oder er ist so eingeschränkt in seinen Kompetenzen, dass er keinen Schritt allein tun kann. Was für ein trauriges Hundeleben. Das andere Extrem ist: Der Mensch sehnt sich nach Freiheit und lebt diesen Wunsch über seinen Hund aus, der alles darf – auch jeden Menschen und Hund ungefragt belästigen. Für viele Hunde kann das genauso überfordernd sein. Eine echte Bindung besteht aus gegenseitigem Wahrnehmen, Erkennen, Vertrauen und Handlungskompetenz. Es entsteht dann ein wahrhaftiges «Gespräch» ohne Worte zwischen Mensch und Hund. Eine echte Bindung lässt Raum und gibt ihn gleichzeitig vor – wir besprechen den Raum aber gemeinsam.

Ein Kapitel Ihres Buches verspricht, zu erklären, wie man «ein sicherer Partner wird». Da geht es unter anderem um die Erkennung eigener Ängste. Muss man also zuerst an sich selbst als Person arbeiten, um eine gute Hundehalterin oder ein guter Hundehalter zu sein?

Das trifft sicherlich nicht auf jeden Hundebesitzer zu. In meinem Alltag muss ich aber beide Seiten des Teams betrachten und coachen. Wenn der Besitzer bereits Angst zeigt vor einer Hundebegegnung auf 100 Meter Entfernung, dann muss ich zuerst den Besitzer coachen, bevor ich ans eigentliche Hundetraining gehen kann. Helmut war mein bester Lehrmeister in Sachen Geduld, kleinschrittig denken, damit wir schneller zum Ziel kommen.

Was halten Sie von der Aussage «Man bekommt immer den Hund, den man braucht»?

Sie sind unsere besten Lehrmeister, sie zeigen uns gnadenlos unsere Fehler auf, unsere Ängste, unsere Stärken und unsere Schwächen. Ich liebe sie dafür.