Kangalen, Pyrenäenberghunde & Co
So läuft die Einsatzbereitschaftsprüfung für angehende Herdenschutzhunde ab
Ihr Job ist es, eine Herde mit ihrem Leben zu beschützen und Raubtiere zähnefletschend abzuschrecken. Verirren sich jedoch Wanderer mit Hunden in ihre Alpweide, müssen sie Freund von Feind unterscheiden können. Eine Herkulesaufgabe für die ausbildenden Landwirte, den Zuchtverband und vor allem die Herdenschutzhunde selbst.
Einen Tag und eine Nacht hat der angehende Herdenschutzhund Dodo bereits auf dem Ättenberg am Rande des Naturparks Gantrisch verbracht. Auf diesem ihm unbekannten Terrain in einer einsamen Umgebung hatte er die Aufgabe, fünf Schafe aus seiner Herde zu beschützen. Es waren strenge Stunden für den jungen Kangalen. Sein bisheriges, rund 18 Monate altes Leben hatte er grösstenteils in Gesellschaft von Artgenossen verbracht. Doch nun musste er sich allein beweisen. «Obwohl Herdenschutzhunde im Team arbeiten, werden sie immer einzeln geprüft», erklärt Ueli Pfister. Er ist Prüfungsexperte der landwirtschaftlichen Beratungszentrale Agridea, die sogenannte Einsatzbereitschaftsprüfungen durchführt. Erst, wenn ein Hund diese bestanden hat, wird er zusammen mit mindestens einem weiteren Hund als Herdenschutzmassnahme anerkannt. Werden nach der Prüfung trotzdem Nutztiere gerissen, zahlen Bund und Kantone eine Entschädigung. Zusätzlich gibt es pro bestandener Prüfung und pro anerkanntem Hund Unterhalt und Subventionen für die Sömmerung. Für die Betriebe geht es also um viel Geld.
Dodo, der davon glücklicherweise keine Ahnung hat, beobachtet aufmerksam, wie wir mit dem Geländewagen den Ättenberg erklimmen. Offenbar war er auf Erkundungstour, doch gesellt er sich rasch wieder zu seinen Schafen. Wir positionieren uns in sicherer Entfernung, um die Prüfungs-Situation nicht zu verfälschen. Nun kann der nächste Teil beginnen. Dabei geht es um die Reaktion des Hundes auf eine fremde Person. Im ersten Durchgang verhält der Figurant sich so, wie Wanderer das tun sollten und macht einen Bogen um die Herde herum. Interessiert nähert sich Dodo dem Fremden und folgt ihm dann mit einem kleinen Sicherheitsabstand auf seinem weiteren Weg. Die Schafe, auf die er aufpassen sollte, scheinen schnell vergessen. Auch nach mehreren hundert Metern macht der Hund keine Anstalten, nach seinen Schützlingen zu sehen. Idealerweise hätte er nach wenigen Metern zur Herde zurückkehren sollen.
Der Figurant lässt sich jedoch nichts anmerken und startet nach einem kurzen Funkspruch mit der verantwortlichen Prüfungsleiterin den zweiten Durchgang. Dabei provoziert er eine Situation, welche Wanderer unterlassen sollten: Er geht mitten in die Herde hinein und setzt sich dort für eine Weile hin. Dodo, zuerst etwas irritiert, entspannt sich schnell und bleibt weiterhin freundlich. Für die zwei weiteren Durchgänge nimmt der Figurant seinen eigenen Hund hinzu. Dodo zeigt ein ähnliches Verhalten wie zuvor und trottet seinen Besuchern fast teilnahmslos hinterher. Dass er sich so weit von der Herde entfernt, ist weder für seine Herde noch für ängstliche Passanten eine ideale Situation. «Bekommt er einmal einen Hieb mit dem Wanderstock, kann er danach aggressiv auf Menschen reagieren», gibt Ueli Pfister zu bedenken.
Tipps für die Begegnung mit einem Herdenschutzhund
1. Die Herde grosszügig umgehen.
2. Ruhig bleiben und schnelle Bewegungen vermeiden.
3. Herdenschutzhunde weder streicheln noch füttern.
4. Falls Sie mit dem Bike unterwegs sind, steigen Sie ab und schieben es.
5. Haben Sie den Hund dabei, kehren Sie besser um. Unbekannte Hunde provozieren bei Herdenschutzhunden ein starkes Abwehrverhalten.
➜ Fühlen Sie sich von einem Herdenschutzhund bedrängt, bleiben Sie ruhig, vermeiden Sie Augenkontakt, aber bleiben ihm zugewandt. Sobald der Hund sich beruhigt hat und aufgehört hat zu bellen, können Sie gemächlich weitergehen. Im Zweifelsfall kehren Sie um.
Trotzdem ist das gezeigte Verhalten von Dodo kein Ausschlusskriterium für die Prüfung. Zwar werden Charaktereigenschaften wie Freundlichkeit, Aggressivität, Herdenorientierung und Bellverhalten notiert und analysiert. Dieses Gesamtbild dient aber in erster Linie dazu, Abwehrverhalten zu erkennen und unerwünschtes, aggressives Verhalten abzugrenzen. Zudem bietet es den Hundebesitzern eine Orientierungshilfe, wo die Schwächen ihrer Hunde liegen könnten. «Liegt eine Alp zum Beispiel in einem stark frequentierten Tourismusgebiet, gibt es schneller Probleme mit Hunden, die übermässig auf Menschen reagieren», erklärt François Meyer – ein weiterer Herdenschutz-Experte der Agridea.
Für gewöhnlich sind bei einer Einsatzbereitschaftsprüfung nur ein Prüfungsleiter und ein Figurant vor Ort. Die langjährigen Experten François Meyer und Ueli Pfister sind jedoch an diesem Tag mit dabei, um die seltenen Gäste der Medien und Tourismusverbände durch den Tag zu navigieren. Eine Vertreterin des Büro Tourismus Schwarzsee erzählt von einem Herdenschutzhund, der im vergangenen Jahr wegen Zwischenfällen mit Touristen ausgewechselt werden musste. Tatsächliche Beissvorfälle kommen in der Schweiz äusserst selten vor. Beschwerden und besorgte Telefonate sind im Sommer jedoch Alltag für das Tourismusbüro. Meistens reicht eine Auskunft über den aktuellen Standort der Herdenschutzhunde, damit man sie umgehen kann. Eine grosse Hilfe stellt deshalb die neue digitale Karte der Agridea dar. Dort können Landwirte einzeichnen, auf welchen Alpen ihre Herdenschutzhunde gerade unterwegs sind. Auch auf der App »SchweizMobil» lässt sich diese Karte mittlerweile als Filter hinzufügen.
Vielseitig gefordert
Konflikte mit Passanten gänzlich zu vermeiden, ist trotz aller Bemühungen praktisch unmöglich im beliebten Wanderland Schweiz. «Es sind eigentlich arme Hunde, denn es wird sehr viel oder zu viel von ihnen erwartet», findet Ueli Pfister. «Sie haben kein Konzept, was eine Gefahr für Schafe darstellt. Das ist eine vermenschlichte Perspektive.» Den Hunden eine gezielte Aggressivität gegen Raubtiere beizubringen, ist keine Option. Wenn die Bindung zur Herde stimme, komme diese aber im Ernstfall von allein, ist Pfister überzeugt. «Der Hund muss seine Herde als Ressource sehen und gegen vermeintliche Konkurrenten abschirmen.»
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Wichtig ist, dass der Hund ausserhalb der Herde umschalten kann. Dort muss er Menschen und Hunden freundlich begegnen. Deshalb wird diese Fähigkeit im letzten Prüfungsteil getestet. Dafür werden die angehenden Herdenschutzhunde vom Halter an die Leine genommen und müssen ein paar Mal hin- und herspazieren. Dabei gibt es unterschiedliche Kontaktvarianten zum Figuranten und dessen Hund. Dodo, der bereits in der Herde freundlich auf Fremde reagierte, zeigt sich auch hier handzahm – was zu erwarten war. «Dieser Teil ist eigentlich nur interessant, wenn die Hunde in der Herde Aggressivität gezeigt haben», erläutert Ueli Pfister. Trotzdem durchlaufen alle Hunde strikt dasselbe Testprogramm.
Zum Schluss müssen die Prüflinge noch zwei Stresstests bestehen. Dabei lässt der Figurant einmal einen Ballon zerplatzen und einmal spannt er rasch einen Regenschirm gegen den Hund auf. «Falls die Hunde dabei erschrecken, ist es wichtig, dass sie sich schnell davon erholen», erklärt Ueli Pfister. Deshalb müssen die Halter mit ihren Hunden auch direkt nach dem Schreck-Moment nochmals am selben Ort durchspazieren. «Manche Hunde stellen dann auf stur und weigern sich, nochmals am selben Ort durchzugehen», erzählt Pfister. Bei einer solchen Reaktion wäre ihr Verhalten zu unberechenbar für die Alp, wo jederzeit ein Passant hektische Bewegungen oder ungewohnte Geräusche machen kann. Dodo hingegen meistert diese Aufgaben mit Bravour. «Hier sieht man auch, wie gut die Vertrauensbasis zwischen Hund und Halter ist», so Pfister.
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Tatsächlich wird einige Wochen später klar: Dodo hat seine Prüfung bestanden. Auch die GPS-Daten des ersten Prüfungsteils, bei dem Dodo fünf Schafe bewachen musste, sind im grünen Bereich. Mittels dieser Daten wird analysiert, ob der Hund seiner Herde über die gesamte Zeit treu blieb und sich nicht zu lange von ihr entfernte. Nur kurze Ausflüge auf Aussichtspunkte sind erlaubt. Weitere Ausschlusskriterien für die Prüfung sind Panik beim Stresstest sowie Schnappen oder Beissen des Figuranten oder dessen Hund, falls Letzteres ausserhalb der Herde passiert. Beim ersten Prüfungsdurchlauf scheitern etwa 23 Prozent der Hunde an einem oder mehreren dieser Knackpunkte. Beim zweiten Durchgang sind es noch 7 Prozent. Hunde, die zwei Mal durchfallen, werden vom Bund nicht als Herdenschutzhunde anerkannt. Einige können als Hofhunde auf dem Ausbildungsbetrieb bleiben. Manche werden trotz fehlenden Subventionen für den Herdenschutz eingesetzt. Teilweise werden sie auch ins Ausland verkauft, wo der Bedarf an Herdenschutzhunden ebenso gross ist wie bei uns.
Vom Welpen zum Herdenschutzhund
Damit ein Hund die Prüfung möglichst bestehen kann, darf in der Ausbildung nichts schief gehen. Diese beginnt bereits ab den ersten Erkundungstouren der Welpen. Täglicher Kontakt mit Schafen, anderen Hunden und Menschen ist ab diesem Zeitpunkt essenziell, ist der erfahrene Züchter und Ausbildner Bruno Zähner überzeugt. «Man muss sich Zeit nehmen für den Welpen und die Wurst nicht einfach über den Zaun werfen.»
Nach zehn Wochen werden die Welpen von der Mutter getrennt und kommen meistens in eine neue Herde. «Hier muss man gut darauf achten, dass die Welpen nicht von den Schafen attackiert werden», erklärt Bruno Zähner. Solche schlechten Erfahrungen könnte die Herdentreue früh gefährden. «Gerade Schafmütter, die eben frisch geboren haben, sind instinktiv eher auf Abwehrhaltung.»
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Doch die Welpen müssen sich nicht nur mit Menschen und Nutztieren sozialisieren, sondern noch viele weitere Dinge lernen, die auch jedem anderen Hund bevorstehen. Zum Beispiel das Ein- und Aussteigen ins Auto, damit auch einmal ein Transfer von A nach B möglich ist. «Man muss ihm die Welt zeigen», fasst der Landwirt vom Biolandbau Guggenbüel in Illnau (ZH) zusammen. Auch die relevanten Kommandos werden von früh auf geübt. Herausfordernd ist hierbei, dass bei Herdenschutzhunden nicht mit Leckerlis gearbeitet wird. «Sonst kann es sein, dass sie auch gegenüber anderen Menschen zu viel Bezug entwickeln und bei jedem Wanderer glauben, dass es etwas zu fressen gibt», so Zähner. Herdenschutzhunde seien aufgrund ihrer Eigenständigkeit auch etwas sturer als andere Hunde. «Sie sind nicht wie ein Border Collie, der uns nur gefallen will», so der Züchter. «Für ihren Einsatzzweck müssen sie aber auch eigenständig sein.»
Wenn sie etwa ein Jahr alt sind, teilt Bruno Zähner die Hunde einer Herde zu, mit der sie selbst arbeiten müssen. Solche Sequenzen in der Ausbildung, in denen sie allein sind, hält er für wichtig. «Es kann in einem Einsatz eine Zeit geben, in der ein Hund allein funktionieren muss – im schlimmsten Fall, weil sein Partner stirbt», gibt er zu bedenken. Über die gesamte Ausbildungszeit schätzt Zähner einen täglichen Aufwand von durchschnittlich einer halben Stunde. Er hält es aber für wichtig, dass die Schafherde für den Hund immer das Spannendste bleibt. «Wenn sie nicht bei mir sind, müssen sie bei der Herde sein.»
Die scheuen Hunde sind passé
Früher dominierte die Überzeugung, dass Herdenschutzhunde das Interesse an Schafen komplett verlieren, wenn sie sich zu stark mit Menschen sozialisieren. Entsprechend menschenscheu war die erste Generation Herdenschutzhunde in der Schweiz, wie Martin von Wyl erzählt. Er leitet die Geschäftsstelle des Vereins Herdenschutzhunde Schweiz, der hierzulande die Zucht koordiniert. «Damals hiess es, man dürfe sie weder anfassen noch streicheln», erzählt er. «Ich hatte auch so einen scheuen Hund und als er eine Ohrenentzündung hatte, dauerte es jedes Mal 15 Minuten, bis ich ihn eingefangen hatte.»
Heute weiss man glücklicherweise, dass für den Hund das Vertrauen zu den Menschen keine Konkurrenz zur Herdenschutztreue darstellt. Im Gegenteil: «Wenn zwischen Halter, Hund und der Herde ein gutes Verhältnis herrscht, bildet sich ein Dreieck im Gleichgewicht», erklärt von Wyl. Dieses sei grundlegend fürs Funktionieren des Herdenschutzhundes. «Dem Hund muss es bei der Herde genauso gut gehen, wie beim Halter. Dann muss er nicht entscheiden, wo er jetzt lieber ist.»
Liberalisierung der Zucht birgt Risiken
Bis vor Kurzem anerkannte der Bund nur den Pyrenäenberghund und den Maremmen-Abbruzzen-Schäferhund als Herdenschutzhunde. Dass die Kantone seit diesem Jahr selbst entscheiden können, welche Rassen zugelassen werden, stört Martin von Wyl nicht. Viel wichtiger sei die Motivation der Halter. «Dies verhält sich wie mit dem Traktor: Man kann einen brandneuen Hürlimann auf einen Betrieb stellen, aber wenn der Bauer kein Fan davon ist, wird er nie richtig funktionieren». Dass im selben Zug auch die finanzielle Unterstützung auf die Kantone abgeschoben wurde, bereitet von Wyl mehr Bauchschmerzen. «Bis vor drei Jahren haben wir jährlich 200 000 Franken vom Bund erhalten», erklärt er. Nun habe sich der Bund komplett aus der Zucht zurückgezogen. Von den Kantonen versprach bisher nur ein Bruchteil, den Verein weiter finanziell zu unterstützen. «Nun haben wir an der letzten Versammlung die Mitgliederbeiträge erhöht, um mindestens die Grundzucht zu erhalten», so von Wyl. Die Folgen dieser Entwicklung seien ein komplett freier Markt. «Vorher waren die Preise vorgegeben», erklärt Martin von Wyl. «Für einen Welpen aus kontrollierter Zucht hat man 300 Franken bezahlt und für einen adulten Hund mit EBÜ-Prüfung 1200 Franken.» Diese Zeiten seien nun vorbei. Mit dem effektiven Aufwand, der bei einer 18-monatigen Ausbildung entsteht, rechnet von Wyl mit Preisen zwischen 6000 und 8000 Franken. «Die Frage ist dann: Kaufen die Bauern die Hunde zu diesem Preis oder gehen sie die Hunde irgendwo im Ausland holen?»
Hunde von ausserhalb der Schweiz seien nicht per se schlecht, betont von Wyl, aber eben nicht zwingend für das Schweizer System geeignet. Im Vergleich zu anderen Ländern wird hier besonderer Wert auf soziale Kompatibilität gelegt, denn im Tourismusland Schweiz ist der Platz begrenzt – auch in den Alpen.
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