Ein dunkler, kalter Winterabend. Was gibt es da Gemütlicheres als ein Raclette in der warmen Stube? Klar gehören dazu auch Essiggurken. Die kleinen, grünen Gürkchen sind Programm beim Schweizer Winterabendschmaus. Herangewachsen und geerntet aber wurden sie an heissen Sommertagen, zum Beispiel in Lützelflüh-Goldbach (BE).

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Ausserhalb des Emmentaler Dorfs kriecht an einem Nachmittag in der zweiten Julihälfte im Schneckentempo ein Raupenfahrzeug über ein Feld. Auf beiden Seiten sitzen je zwei Frauen hintereinander, ein Planendach schützt vor den Sonnenstrahlen. In Fahrtrichtung wird beidseits ein Drahtgeflecht mit darüber wuchernden Gurkentrieben hochgeklappt. Die Ernterinnen greifen mit flinken Händen nach den unten aus dem Geflecht hängenden Gürkchen und werfen sie in Harassen in der Mitte des Fahrzeugs. Hinter ihnen legt sich der Zaun mit den Gurkenranken wieder aufs Feld.

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«Wir sind jetzt am Anfang der Ernte», sagt Simon Lehmann am Rand des Felds. Auf dem Raupenfahrzeug sitzen seine Mutter Marlis und andere Bauernfrauen aus der Umgebung, die beim Pflücken der Essiggurken helfen. Jetzt, bei diesem warmen Wetter, wüchsen die Gurken drei bis vier Zentimeter pro Tag. «Wir ernten alle zwei bis drei Tage, bis im September.» Dank des kurzen Ernteintervalls könnten die Gurken jung gepflückt werden. «Wir ernten bei einem Durchgang alle, ob klein oder gross.» Doch: Bei den Essiggurken ist klein gefragt. «Sie müssen schliesslich am Ende ins Glas passen», sagt der Landwirt. Bis zu zwölf Zentimeter lang dürften sie sein. «Was grösser ist, sortieren wir aus. Wir füttern sie den Kühen.» Simon Lehmann ist vielseitig. Auf seinem Hof im Ortsteil Brandis hat der Meisterlandwirt 25 Red-Holsteiner-Kühe. Die Milchwirtschaft sei denn auch der grösste Betriebszweig. Weiter betreibt er Ackerbau, einen Forstbetrieb, stellt Silomais her, baut Kartoffeln und Rüebli an – und 70 Aren Essiggurken. Der 33-Jährige hat den elterlichen Hof im Jahr 2018 übernommen.

«Essiggurken mögen Wärme und brauchen viele Nährstoffe.»

Simon Lehmann, Landwirt, Lützelflüh-Goldbach (BE)

Die Bauernfamilie Lehmann wirtschaftet schon lange auf dem Hof im Brandis. 1898 habe sich ein Onkel seines Grossvaters hier niedergelassen, erzählt Simon Lehmann. Er wohnt in einem separaten Haus, der Stall nebenan stammt von 1604, der Speicher wird zwischen 1100 und 1300 datiert. Im Vergleich dazu ist der Anbau von Essiggurken neu. Simon Lehmanns Vater Hans hat damit begonnen. «Um 1992 wurden sie hier in der Region von etlichen Landwirten angebaut», erzählt der Jungbauer. Als der damalige Abnehmer seine Produktion ins Ausland verlagerte, hörten die meisten mit dem Anbau auf. Nicht so die Lehmanns. Sie gehören heute zu etwa 30 Landwirten, die schweizweit Essiggurken produzieren. «Wir sind in einer Interessengemeinschaft organisiert», erzählt der Landwirt. Die IG verhandelt mit dem Abnehmer Hugo Reitzel in Aigle (VD). «Dies ist die einzige Schweizer Firma, die Essiggurken verarbeitet», kommentiert Lehmann.

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Hoher Ertrag, hohe Arbeitsbelastung

Das Raupenfahrzeug wurde zwischenzeitlich gewendet, Kisten voller leuchtend grüner, unterschiedlich grosser Gurken befinden sich aufgeschichtet am Feldrand. Simon Lehmann kontrolliert das Obstgemüse und sagt: «Etwa 46 Gurken bringen ein Kilo.» Der Vorteil des Gurkenanbaus sei, dass mit wenig Land eine hohe Wertschöpfung generiert werden könne, erklärt er. Im Verhältnis zu Kartoffeln ergebe sich aus dem gleichen Stück Land mit Essiggurken ein weitaus höherer Ertrag.

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Das tönt verlockend, doch zum Ernteerfolg gehört auch eine sehr hohe Arbeitsleistung. «Für eine Hektare Gurken braucht es 4000 bis 4500 Arbeitsstunden. Bei uns ernten immer sechs bis zehn Personen», sagt der Landwirt. Auf Lehmanns Hof arbeiten seine Eltern, ein Festangestellter sowie saisonale Kräfte aus der Umgebung. Sechs bis zehn Personen sind von Juli bis September täglich mit der Gurkenernte beschäftigt.

Das Gurkenfeld liegt direkt an einem Wald auf flachem Land in der Talebene. Rehe würden sich nicht darüber hermachen. Viel mehr macht Lehmann der Mehltau zu schaffen. «Wir hatten kürzlich Rieselregen, das fördert diese Krankheit», sagt der Landwirt. Er muss die Gurken dagegen behandeln. Überhaupt seien Gurken sehr anspruchsvoll. «Heuer war es insgesamt zu kalt. Sie mögen Wärme und brauchen viele Nährstoffe.» Über die tägliche Bewässerung wird Dünger zugeführt.

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Die Gurkenpflanze ist ein Flachwurzler. Simon Lehmann baut sie in einer Fruchtfolge von sechs Jahren an. «Vorher wuchs vier Jahre Gras auf dem Feld.» Das sorge für eine gute Grundversorgung des Bodens; dank der Kühe sei das Land mit Kali angereichert. Die Andüngung erfolge auf Phosphorbasis. Gurken brauchen viel Wasser, doch Staunässe oder sumpfigen Boden vertragen sie nicht.

Blüten und Gurken an der gleichen Pflanze

Die Arbeit mit den Essiggurken beginnt lange, bevor geerntet werden kann. «In diesem Jahr haben wir am 22. Mai ausgesät», sagt Simon Lehmann. Das Wetter sei vorher zu kühl und unbeständig gewesen. Ein Teil der Samen würde direkt auf dem Feld ausgesät, der andere in Presstöpfen. Die Essiggurkensamen kaufe er. Nach einer Woche seien die Keimlinge sichtbar. Der Vorteil der Jungpflanzen in den Töpfen sei, dass sie unter kontrollierten Bedingungen und geschützt heranwüchsen. Sie würden auf einem Wagen erhöht gezogen. «Im Topf wachsen sie schneller, wenn wir sie dann aber auspflanzen, fallen sie in der Entwicklung zurück, weil sie sich zuerst anwurzeln müssen», sagt der Landwirt.

«Grössere Gurken sortieren wir aus und füttern sie den Kühen.»

Simon Lehmann, Landwirt, Lützelflüh-Goldbach (BE)

Er würde jeweils vier Samen setzen. «So bin ich sicher, dass sich eine Pflanze gut entwickelt.» Schnecken haben es auf sie abgesehen, Mäuse und Krähen möchten sie fressen. Ob in Töpfen oder im Freiland, die Keimlinge werden mit einem Vlies geschützt. So bildet sich darunter ein Mikroklima, Unkraut wird im Wachstum gehemmt, später muss es von Hand gejätet werden. Es gibt zwei Methoden, wie die Gurken angepflanzt werden. «Das System mit dem Gitter hier», Simon Lehman zeigt auf die Reihen mit dem Raupenfahrzeug, «ist aufwendig zum Einrichten, aber es ist einfacher zum Ernten.»

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Dort, wo die Gurken ohne Gitter über den Boden wachsen, müssten die Ernterinnen vom Fahrzeug aus liegend arbeiten, es sei mühsamer an die Gürkchen zu gelangen. Doch auch so würden sie 50 Kilo pro Zeile schaffen.

Der Nachmittag ist fortgeschritten, die Harassen mit geernteten Gurken werden mehr. «Heute schafften wir 500 Kilo», sagt Simon Lehmann zufrieden. Die IG Essiggurken organisiert die Abholung und den Transport zu Hugo Reitzel nach Aigle. Mehrmals wöchentlich fahren Lastwagen vor. Die Gurken würden sofort verarbeitet. Einmal im Glas mit Sud lassen sie sich lange halten.

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Eine Biene besucht eine gelbe Blüte der Gurkenpflanze. Das Gewächs blüht und trägt gleichzeitig Gürkchen verschiedenster Grösse. Welch ein Gegensatz! Jetzt, wo das Raclette brutzelt und sich der Käse schliesslich auf dem Teller mit geschwellten Kartoffeln und Gürkchen vermischt, liegt das Feld in Lützelflüh-Goldbach kahl da. Bis im nächsten Frühling, wenn es wieder losgeht.

Essig- oder GewürzgurkeDie Gurkenpflanze gehört zu den Kürbisgewächsen. Vermutlich stammt die Wildform ursprünglich aus Indien und wurde dort bereits 1500 vor Christus domestiziert. Gurken gehören botanisch gesehen zum Obst, nicht zum Gemüse, obwohl sie im Einkaufszentrum beim Gemüse eingereiht werden. Die Gurke verträgt keinen Frost. Bei den Essig- oder Gewürzgurken handelt es sich um eine besondere Züchtung. Die geernteten Gurken werden in einen Sud aus Dill, Senfkörnern, Zwiebeln, Salz und Zucker eingelegt.