Tom Wieland geht nicht so rasch die Puste aus. Er rennt in flottem Tempo auf dem knarrenden Crosstrainer – konzentriert, mit grosser Ausdauer und der Seelenruhe eines Marathonläufers, der schon zigmal die Ziellinie überquert hat. Und nach wenigen Sekunden ist es so weit: Der erste Tropfen Öl löst sich wie von Zauberhand aus der braungrauen Masse, die in dünnen Röllchen aus einem fleischwolfähnlichen Gerät quellt und in einen Eimer plumpst. Die Freude steht dem 50-jährigen Gründer des «Gmüesesels» ins Gesicht geschrieben, jetzt, wo sich das Glas immer mehr mit Öl füllt und sich jeder zusätzliche Schritt auszuzahlen scheint.

Doch hinter diesem spektakulären Prozess steckt nicht Magie, sondern die routinierte Hand eines Elektroingenieurs, der einst auf der ganzen Welt bei Grossprojekten Hand angelegt hat und dem der Sinn nach einem Neuanfang und Experimentieren stand. Für seine spezielle Produktionsstätte hat Tom Wieland mehrere Fitnessgeräte in Estrichen und Brockenhäusern zusammengetragen und gemeinsam mit einem Kollegen mit Mühlen, Ketten und Fassbecken versehen. Zu bestaunen und besteigen sind diese Spezialanfertigungen – mittlerweile sind es fünf – in einem Lagerraum unweit des Bahnhofs von Thörishaus (BE).

Jeder Effort zählt

Auf kleinstem Raum produzieren hier Menschen mit reiner Muskelkraft Nahrungsmittel. Einige der Ausgangsprodukte hat Tom Wieland selber angebaut, andere holt er auf Höfen in der Umgebung ab. «Ein Fünftel der produzierten Menge winken als Lohn für den körperlichen Effort», verrät Tom Wieland. Wer sich richtig ins Zeug legt, schafft beachtliche Mengen: Innert zehn Minuten füllt sich das Ölglas um einen Viertel, für die Polenta vermahlen gut Trainierte in einer Stunde fünf Kilo Maiskörner.

Im vermutlich kleinsten Fitnessstudio der Schweiz ist jeder willkommen. Jeweils am Dienstagnachmittag wird im 1133-Seelen-Dorf zwischen Bern und Freiburg gestrampelt, geschwitzt und auch viel gelacht. Manchmal sind ganze Schulklassen am Werk, manchmal Gruppen oder Einzelpersonen, die sich aus Neugierde oder Sympathie für dieses ungewöhnliche Projekt einfinden. Dass sich mit Armen und Beinen und ganz ohne Strom ein Produkt herstellen lässt, scheint Fitnessfreaks und Bewegungsmuffel jeder Altersklasse und Herkunft zu faszinieren.

Auch der Gründer selbst ist nach wie vor überzeugt vom Konzept: «Es ist eigentlich sonderbar, dass wir mit hohem Energieaufwand und grossen Umweltauswirkungen Nahrung im Überfluss produzieren und dann in Fitnessräumen, die selbst auch wieder Energie brauchen, die überflüssigen Kalorien wieder loswerden wollen.» Anders im «Gmüesesel»: Hier wird mit reiner Muskelkraft und einem Quäntchen Ambition aus Mais Polenta, aus Hartweizen Griess und aus Rapssamen Öl. Rund eine Tonne Rohstoffe werden hier insgesamt pro Jahr verarbeitet.

Im Fluss statt im Überfluss

Die fertigen Produkte liefert der Vater zweier Kinder in Bio- oder Unverpackt-Läden in der näheren Umgebung ab – mit dem Velo und dem XL-Anhänger, der das Auto ersetzt. Am Samstag veräussert er die Produkte an einem Marktstand in Thörishaus. Das grosse Geschäft macht Tom Wieland damit nicht, doch das war nie das Ziel, als er vor rund zehn Jahren aufgrund einer immer grösser werdenden Unzufriedenheit seinen gut bezahlten Job an den Nagel hängte und sich in dieses Abenteuer stürzte. Heute führt er ein Leben nach seinen Vorstellungen – ein bescheidenes, wohlverstanden. «Aber äs längt», sagt der grossgewachsene Berner, der mit seiner Familie auf einem Bauernhof und zu weiten Teilen autark lebt. «Ich kann immer mehr Sachen nach meinen Vorstellungen umsetzen und mein Leben kommt immer mehr in Fluss.»

Tom Wieland führt weiter übers Gelände und zerrt die Tür eines in die Jahre gekommenen Häuschens auf. Hier lagern Lavabos in allen erdenklichen Grössen und Formen, Schläuche, Kochherde, Kühlschränke und Dutzende von Lichtschaltern und Wasserhähnen, die nicht mehr brandneu sind, aber immer noch gute Dienste tun. «Zum Wegwerfen doch viel zu schade!», ruft Wieland und schüttelt ungläubig den Kopf. Die Fundstücke rettet er zusammen mit einem Kollegen aus Gebäuden, die abgerissen werden – immer im Einverständnis mit der Bauherrschaft notabene –, und verkauft sie geputzt und poliert im Internet oder direkt vor Ort.

Humor statt missionarischer Eifer

Auch «Top Schrott», wie er seine Bauteile-Börse nennt, ist nicht ein besonders einträgliches Geschäft, aber das ist Nebensache. Kreisläufe schliessen und Nachhaltigkeit leben macht für ihn Sinn und häufig auch Freude. «Ich will mit meinem Lebensstil keinesfalls missionieren und verändere damit auch nicht die Welt», sagt Tom Wieland lachend und legt den leicht verkalkten Temperaturregler zurück an seinen angestammten Platz. Und doch hofft er auf ein Umdenken, was den Umgang mit unseren Ressourcen angeht. Die in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verankerten Ziele sind ihm ein grosses Anliegen; ein Leben in Harmonie mit der Natur, eine lebenswerte Zukunft für die nächste Generation.

«Der Gmüesesel ist eine Art Spielplatz oder Labor», umreisst der umtriebige Berner sein Wirken. Ständig spriessen neue Ideen, deren Umsetzung die Tage neben der Kinderbetreuung füllen. Einige davon sind bereits umgesetzt, wie etwa das Dörren von Fallobst, das die Besitzer von Hochstammbäumen selbst nicht ernten. Oder die eigene kleine Baumschule mit über 200 Obstbäumen und die Gartenprojekte, die er an der örtlichen Schule realisiert. Auch ist er eine treibende Kraft beim Projekt «Umschwung», das in einer alten Villa unweit des «Gmüesesels» untergebracht ist. Hier kann das ganze Dorf mit anpacken. Von der Wildkräuterwanderung über den Deutschkurs bis zur Bücher- oder Kleidertauschbörse: Jede Initiative fällt in diesem Altbau auf fruchtbaren Boden. «Dieses Projekt bringt Leben in unser Dorf», freut sich Tom Wieland. Einige Leute blühten hier regelrecht auf. Sie halten die Villa, die die Gemeinde kostenlos zur Verfügung stellt, in Schwung und hegen und pflegen den angrenzenden Dorfgarten.

Gemeinsam statt einsam

Das Engagement des Vereins werde von behördlicher Seite geschätzt, freut sich Tom Wieland. Und auch die Aktivitäten des «Gmüesesels» werden weit übers Dorf hinaus wohlwollend zur Kenntnis genommen. Dennoch: «Viele Menschen sind mit meinem Lebensmodell überfordert und eher irritiert darüber, dass ich nicht nach Gewinnmaximierung strebe», berichtet er. Ob bewusst oder unbewusst: Tom Wieland bringt Werte und eingeschliffene Denkmuster ins Wanken.

Und tut dies immer wieder: Etwa, wenn er sich entschliesst, die geernteten Hochstamm-Äpfel und -Birnen von Hand statt maschinell zu rüsten. Die Arbeit der Helferinnen und Helfer wird später mit getrockneten Hansli-Birnen und Klara-Äpfeln honoriert. Der «Gmüesesel»-Initiant ist sich sicher: «Diese Art von Zusammenarbeit ist nicht nur sinnvoll, sondern macht allen auch grossen Spass.»

Doch solche Möglichkeiten der Zusammenkunft werden mit zunehmender Automatisierung immer seltener. «Die Landwirtschaft müsste wieder mehr derartige Begegnungsräume schaffen, damit Menschen gemeinsam die Früchte ihrer Arbeit sehen», ist Tom Wieland überzeugt. Sagt’s und beisst auf einen getrockneten Apfelring, den er mit einem solarbetriebenen Dörrapparat der Marke Eigenbau hergestellt hat. Süss und sinnvoll – das ist es, wonach er hungert und was ihm mundet. [IMG 2]