Nachhaltigkeit
Vom Braukessel auf den Teller: Bierabfälle als nachhaltige Nahrungsmittel
Beim Bierbrauen fallen hochwertige Nebenprodukte an, die meist nicht weiterverwendet werden. Damit soll jetzt Schluss sein – zumindest im Appenzell: Food-Upcycling statt Food Waste heisst die Devise der Brauerei Locher, die mit schmackhaften Treber-Produkten das Land erobern will.
Ein Rekord, von dem nur wenige wissen: Die Schweiz hat mit über 140 Brauereien pro Million Einwohner laut dem Schweizer Brauerei-Verband die weltweit höchste Brauereidichte. Obwohl die jeweiligen Rezepte ein gut gehütetes Geheimnis sind, ist das bereits im Mittelalter in klösterlichen Brauereien verwendete Grundverfahren bis heute mehr oder weniger das gleiche: Brauwasser und Malz aus Gerste oder Weizen werden mit Hopfen vermengt, der dem Bier sein spezielles Aroma und eine herbe Note verleiht und es haltbar macht. Dann Hefe beigeben und den Gärprozess ankurbeln, womit Kohlensäure und Alkohol entstehen.
Verschwendung bekämpfen
Aber Bierbrauen – auch das ist den wenigsten bewusst, wenn sie frohen Mutes am Feierabendbier nippen – braucht enorm viele Ressourcen und verursacht mehrere sogenannte Nebenströme. Der bekannteste und weitaus grösste ist der Treber, der beim Abfüllen des fertigen Biers als feuchte Masse zurückbleibt. Pro 100 Liter Bier fallen stattliche 25 Kilogramm Treber an. Was tun mit dieser braunen, faserigen Masse, die zu 80 Prozent aus Feuchtigkeit besteht und in der viele Proteine (25 Prozent), Ballaststoffe (40 Prozent), Vitamine, Fette und Spurenelemente stecken?
Viele Brauereien gaben während Jahrzehnten den nahrhaften Treber an Bauern der Umgebung ab, die damit ihre Tiere versorgten. Ein Absatzkanal mit Tücken: Gerade im Sommer, wenn viel Treber anfällt, frisst das Vieh Gras und benötigt nicht zusätzliches Futtermittel. Als gesetzliche Verschärfungen zur Treber-Abgabe hinzukamen und der kostbare Rohstoff auf dem Kompost, in der Biogasanlage oder auf dem Müll zu enden drohte, brachte das bei der Brauerei Locher das Fass zum Überlaufen. «Welch eine Verschwendung!», empört sich Aurèle Meyer, Geschäftsleiter der Traditionsbrauerei, die über 40 Bierspezialitäten im Angebot hat. Für die Führungscrew war klar: Jetzt ist es an der Zeit, den 35 bis 50 Tonnen Treber, die täglich in der Appenzeller Brauerei anfallen, einen Platz an der Sonne oder zumindest auf dem Teller zu sichern.
Hauptrolle für Nebenströme
Doch ganz so einfach gestaltete es sich nicht, Ideen Richtung Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft umzusetzen: «Der feuchtwarme Treber, der beim Brauen zurückbleibt, ist aus lebensmitteltechnischer Sicht herausfordernd», so Meyer. Was sich rasch herauskristallisierte: Nur eine blitzschnelle und einwandfreie Aufbereitung des Trebers kann die hygienischen Auflagen erfüllen, ohne die kostbaren Inhaltsstoffe zu ruinieren. Und ebenso klar war: «Bei den Treber-Produkten muss der Genuss an erster Stelle stehen; nur wenn sie wirklich gut schmecken, erhalten sie Einzug in die Alltagsküche», fasst Meyer die damaligen Überlegungen zusammen. Ein ambitioniertes Vorhaben, zumal unbearbeiteter Treber einem Gebäck eine mitunter faserige Konsistenz verleihen kann, was sich bei einigen im Handel erhältlichen Broten oder Cookies zeigt. Eine weitere Gefahr: Ein zu hoher Treber-Anteil in einem Nahrungsmittel kehrt den Genuss rasch ins Gegenteil.
Der schwierigen Ausgangslage und den hohen Ansprüchen an die neue Linie zum Trotz: Seit nunmehr drei Jahren produziert die Brauerei Locher zusammen mit dem Start-up «Upgrain» unter dem Label «Brewbee» aus Brauerei-Nebenströmen Convenience-Produkte wie Ravioli, Pizza, Lasagne, Plant-based-Produkte, Müesli mit Malztreber-Flakes und Cornflakes. Aurèle Meyer selber schwört auf die «Tschipps»: «Die könnte ich jeden Tag essen.» Zusammen mit der Pizza gehören sie im Moment zu den Bestsellern. Die neue Produktlinie, die im eigenen Onlineshop und im Handel erhältlich ist, wird laufend erweitert. Was das Besondere an den Treber-Produkten ist? «Sie sättigen gut und sind vollwertig, sehr aromatisch und verschaffen ein gutes Gewissen», so Meyer.
Obwohl die Linie langfristig rentieren soll, steht noch mehr auf dem Spiel als ein berauschender Umsatz: «Wir müssen dem Ackerland und unseren Ressourcen einfach wieder mehr Sorge tragen», findet der Vater zweier Kinder. Wiederverwendung statt Verschwendung – dieser Maxime trägt das Unternehmen seit jeher Rechnung. «Kreislaufwirtschaft ist bei uns absolut nichts Neues», sagt der Geschäftsleiter der 139-jährigen Brauerei.
Kreis- statt Leerlauf
Im Appenzell – einer einst armen Region – sei man mit den Rohstoffen seit jeher sorgfältig umgegangen: «Das steckt quasi in der DNA der Menschen hier.» Die Bemühungen, den Treber in der Wertschöpfungskette zu belassen, sei eigentlich ein Schritt «back to the roots». In der Tat: Auch ein weiterer Nebenstrom wird seit vielen Jahren im Appenzell genutzt. Mit der Bierhefe, die sich bei jeder Gärung vermehrt, stellt die Brauerei Futtermittel für die hauseigene Eglizucht her und ersetzt damit das handelsübliche Futter, das meist aus Fischfang aus dem Meer besteht.
Doch auch bei den fürs Bier verwendeten Ingredienzen legt die Brauerei seit jeher Wert auf Regionalität und Nachhaltigkeit. Und scheut dabei keine unternehmerischen Risiken: In den 1990er-Jahren stellte Karl Locher, Leiter der Brauerei in fünfter Generation, fest, dass in der Schweiz sämtliche für die Bierherstellung verwendete Gerste aus dem Ausland stammte. Daraufhin schloss er sich mit Bergbauern der Region zusammen, die sich für Anpflanzungsversuche bereiterklärten. Mit Erfolg: Heute spriesst in der Schweiz wieder Braugerste – die Brauerei bezieht von über 50 Bergbauern und Landwirten aus dem Flachland bis zu 400 Tonnen Braugerste pro Jahr. Und auch für das «Bschorle», einen Mix aus Malz und Apfel- und Birnensaft, setzt das Traditionsunternehmen auf Früchte von Hochstammbäumen, um Biodiversität zu fördern und Insekten Nahrungs- und Nistplätze zu sichern.
Neue Massstäbe setzen
Trotz vieler Bestrebungen: Die Appenzeller Brauerei ist noch nicht am Ziel. Derzeit werden lediglich 15 Prozent der Nebenströme für die Brewbee-Produkte verwendet. «Bis Ende Jahr wollen wir sämtliche Nebenströme weiterverarbeiten», umreisst das Unternehmen das ambitionierte Vorhaben. Grosse Hoffnung ruht auf einem neuen Proteinpulver aus Treber: Eine im letzten Jahr entwickelte Anlage soll jährlich 25 000 Tonnen Treber zu 6000 Tonnen Pulver verarbeiten. «Wir wollen die weltweit erste Brauerei sein, die hundert Prozent ihrer Nebenströme zu Lebensmitteln verarbeitet», hält Meyer fest.
«Welch eine Verschwendung!»
Aurèle Meyer, Geschäftsleiter der Brauerei Locher
Damit sollen nicht nur Wasser und Ackerland optimal genutzt, sondern auch CO2-Emissionen in der Höhe von über 5500 Tonnen eingespart werden. Dank der industriellen Skalierbarkeit, die die Anlage ermöglicht, kann sie sofort und überall auf der Welt eingesetzt werden. Laut Meyer sind bereits Anfragen von mehreren Grossbrauereien aus der ganzen Welt eingegangen, die Interesse an der neuen Technologie bekunden.
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Derweil versuchen auch Grossverteiler, mit Lebensmitteln aus Nebenströmen mehr Nachhaltigkeit in die Regale zu bringen. Mit der im Februar 2025 lancierten Eigenmarke «Nice to Save Food» bietet Coop derzeit sechs neue Produkte an, darunter auch solche aus dem Brewbee-Sortiment. Die Linie werde laufend erweitert, schreibt das Unternehmen in einer Mitteilung anlässlich der Lancierung. Um die Akzeptanz bei der Kundschaft zu steigern, hat die Coop-Tochter Betty Bossy eigens Rezepte mit den neuen Lebensmitteln entwickelt. Noch ist offen, ob die Kundschaft anbeisst.
Rückläufiger BierkonsumIm vergangenen Jahr ist der Pro-Kopf-Konsum beim Bier unter die Marke von 50 Litern gesunken. Damit hält die jahrelange Talfahrt an: Der gesamte Bierabsatz ging laut dem Schweizer Brauerei-Verband im Braujahr 2023 / 24 (per Ende September) um 1,6 Prozent auf 4,5 Millionen Hektoliter zurück. Dabei traf es die Schweizer Brauereien härter: Der Inlandausstoss fiel um 1,7 Prozent. Die importierten Biere hatten einen Anteil von 21,4 Prozent am Gesamtmarkt. Beim alkoholfreien Bier ist die Nachfrage im letzten Jahr weiter gestiegen: Sie legten um 12 Prozent auf 0,31 Millionen Hektoliter zu, womit ihr Anteil am gesamten Biermarkt 7 Prozent beträgt.
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