Reportage
Storchenberingung in Altreu: Wie junge Störche für die Forschung markiert werden
Ein winziger Kunststoffring am Bein verrät, woher ein Storch kommt, wo er seinen Winter verbringt oder wie alt er ist. Um den Jungtieren die Ringe anzulegen, braucht es Fachwissen, einen schwindelfreien Beringungsexperten und eine Feuerwehrleiter. Die TierWelt war am Beringungstag im Storchendorf Altreu im Mai mit dabei.
Am Nachmittag des 27. Mai wirkt das Dorf Selzach (SO) wie ausgestorben. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Vielleicht, weil der Himmel so aussieht, als würde er jeden Moment seine Schleusen öffnen. Biegt man jedoch in den Eichackerweg und steuert das Infozentrum Witi in Altreu an, ist es mit der Ruhe schlagartig vorbei: Bereits von Weitem ist ein Feuerwehrauto mit ausgefahrener Hebebühne zu sehen. Auf der Kanzel, die zwischen den Baumwipfeln emporragt, stehen zwei Männer. Die Mission ihres Nachmittags ist klar: Junge Weissstörche im Ort zu beringen – und davon gibt es in Altreu viele.
65 Brutpaare besiedeln die Region am Bogen der Aare. Entsprechend viele Horste sind auf den Dächern und in den Bäumen beim Infozentrum Witi zu sehen. Rund um das Feuerwehrauto versammeln sich eine Schulklasse, eine Kindergartengruppe, Mitarbeitende des Infozentrums und Anwohnende. Zahlreiche Augenpaare sind auf den Korb zwischen den Baumwipfeln gerichtet. Sogar Velofahrerinnen und -fahrer stoppen ihre Drahtesel, um zu sehen, was die Feuerwehr da macht.
Nach einigen Minuten senkt sich die Hebebühne wieder gegen den Boden. Die beiden Männer, ausgerüstet mit knallgelben Helmen und Sicherheitsgurten, verlassen den Korb. «So, einen Horst hätten wir», sagt Lorenz Heer zu den Zuschauenden. Seit etwa sieben Jahren beringt der Biologe und Geschäftsführer von Pro Natura Bern Jungstörche – nicht nur in Altreu, sondern auch an weiteren Orten.
Der Kunststoffring, der einem Jungtier am Bein angebracht wird, dient dazu, dieses später zu identifizieren und wissenschaftliche Erkenntnisse über sein Leben und Verhalten zu gewinnen.
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Relevant ist dabei die Nummer auf dem Ring, die aus einer dreistelligen Ziffer, zwei Buchstaben und der Bezeichnung der Beringungszentrale besteht. Diese Konstellation gibt beispielsweise preis, in welchem Land der Vogel geboren wurde. So verraten die Buchstaben HES, dass der Storch in der Schweiz geboren wurde. Beringt werden die jungen Vögel, wenn sie etwa 45 Tage alt sind. Nur wenig später, im Alter von 70 oder 80 Tagen, werden sie flügge und verlassen den Horst erstmals.
Jungstörche stellen sich tot
Um überhaupt in die Nähe der Horste zu gelangen, ist ein Feuerwehrauto mit Drehleiter und Hebebühne unumgänglich. Zwei Männer der Feuerwehr Solothurn sind dazu im Aufgebot: Der eine fährt, der andere steht mit Lorenz Heer gemeinsam auf der Kanzel. Aus Sicherheitsgründen dürfen nur zwei Personen hochfahren, das Tragen von Sicherheitsausrüstung ist neu obligatorisch.
Gemeinsam mit den beiden Feuerwehrmännern und dem Team des Infozentrums Witi bespricht der Beringungsexperte, welche Horste als nächstes angesteuert werden sollen. Die grösste Schwierigkeit bei der Aktion sei jeweils das Manövrieren des Feuerwehrautos, betont Heer. «Wir müssen genau überlegen, wohin wir das Fahrzeug am besten stellen, damit wir mit der Kanzel einen möglichst hindernisfreien Zugang zum Horst haben. Nur so können wir uns den jungen Störchen auch problemlos nähern.»
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Wird die Drehleiter der Feuerwehr in die Nähe der Dächer gefahren, bleiben die Altvögel relativ lange im Horst, schildert Heer. «Die Eltern fliehen oft erst im letzten Moment, bleiben aber in der Nähe. Die Jungvögel stellen sich tot und ducken sich ins Nest herunter. So können wir den Ring anbringen. Sobald wir unten angekommen sind, stehen die Kleinen wieder auf und die Altvögel kehren aufs Nest zurück.»
Nach einigen Besprechungsminuten steht der Plan: «Machen wir jetzt die Horste auf dem Kocher-Schopf, dann den auf dem Dach des Restaurants!», so der Tenor der Runde. Feuerwehrmann Daniel Fuchs verschwindet in der Fahrzeugkabine; sein Kollege Tobias Vogt klettert gemeinsam mit dem Beringer wieder in die Kanzel, die erneut in die Höhe gefahren wird – begleitet vom berühmten Storchenklappern.
«Jetzt werden die Eltern etwas nervös», sagt Renata Gugelmann, die von unten beobachtet, wie sich das Beringungsteam dem nächsten Horst nähert. Sie leitet das Witi-Team und koordiniert um die 100 Führungen pro Saison. Als Lorenz Heer nur wenige Meter vom Horst entfernt ist, ziehen die Altvögel von dannen. Damit ist die Bahn frei für die nächsten Beringungen.
Wie viele Jungvögel an diesem Nachmittag effektiv beringt werden können, sei schwierig zu sagen, erklärt Gugelmann. «Letztes Jahr konnten wir 29 von 70 Jungtieren beringen. Hoffen wir, dass die Feuerwehr Solothurn heute nicht zu einem Notfall-Einsatz ausrücken muss, sonst müssen wir die Aktion abbrechen.»
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Die Feuerwehr komme jeweils einmal pro Jahr nach Altreu – auf freiwilliger Basis. Einen zweiten Beringungstag gibt es nicht. Heer beringe so viele Störche wie eben an einem Nachmittag möglich, sagt Gugelmann. Sobald ein Ring angebracht ist, notiert Heer Nummer und Horst. Diese Informationen werden mit Heidi Ammann abgeglichen, die den Storchenbestand seitens Infozentrum Witi überwacht. Sie führt ein Verzeichnis über die Horste auf dem Gelände. In unterschiedlichen Farben hält sie im Verzeichnis aktive, verlassene und neue Horste fest. Dieses Jahr herrsche beinahe Wohnungsnot, sagt Ammann. «19 Störche, die in Altreu geboren sind, kehrten hierhin zurück, um zu brüten.» Alle Horste seien jedoch belegt gewesen, sodass zusätzliche Plattformen aufgebaut werden mussten.
Wird ein Horst über Jahre als Brutstube genutzt, wachse er kontinuierlich an, schildert Ammann. «Dabei können sie bis zu 1000 Kilogramm schwer werden.» Zu schwere Exemplare müssten während der Baum- und Horstpflege, die jeweils im Herbst und Winter durchgeführt wird, entfernt werden. Für die Störche sei dies aber nicht zwingend ein Hindernis, um dieselbe Stelle nicht wieder in Beschlag zu nehmen. «Einer der Horste, von dem wir alles Material heruntergenommen hatten, war binnen sieben Tagen wieder aufgebaut!»
Trotz Panne zufrieden
Schöne Geschichten rund um die Störche von Altreu haben Renata Gugelmann und Heidi Ammann viele zu erzählen. Zu sehen, dass manche der Störche an ihren Geburtsort zurückkehrten, freue das Team des Infozentrums Witi natürlich sehr, sagen die beiden. Einige Tage vor der jährlichen Beringungsaktion werden jeweils die Jungvögel gezählt. «Am 19. Mai habe ich knapp über 100 Jungstörche registriert», sagt Ammann. «So viele sind es allerdings nicht mehr.»
Warum einige Jungvögel fehlen, sei nicht immer klar. «Eine Ursache ist sicher das Wetter – Nässe kann für die Jungen gefährlich werden.» Ein anderer Grund sei die Menge, welche die Jungen in diesem Alter verputzen. «Ein Jungvogel benötigt täglich viel Futter. Das müssen die Eltern erst einmal sammeln können. Und dabei konkurrenzieren sie sich auch mit den vielen anderen Paaren.» Kommt es hart auf hart, könne es daher auch mal vorkommen, dass das schwächste Jungtier aus dem Horst geworfen wird. «Wenn man feststellt, dass es einmal fünf Junge waren, dann nur noch zwei, tut das schon weh.»
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Inzwischen hat das Feuerwehrauto einige Male die Position gewechselt und steht jetzt vor dem Restaurant «Zum Grüene Aff». Doch nun wird die Hebebühne eingefahren. Lorenz Heer steigt aus und kommt auf die Zuschauenden zu. «Leider müssen wir für heute aufhören – eine Druckleitung hat ein kleines Leck.» Streng, wie die Sicherheitsvorschriften der Feuerwehr sind, können so keine weiteren Störche beringt werden. Zufrieden ist der Beringungsexperte dennoch: In etwa zweieinhalb Stunden hat er 17 Jungstörche beringt. «Das hat tiptop funktioniert. Und die Jungvögel sind alle gesund und munter – und das Wetter hat zum Glück gehalten!»
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