Erfolge in Deutschland und Österreich
Kann das Wiederauswilderungsprogramm für Waldrappe auch in der Schweiz funktionieren?
Der Waldrapp starb um das 16. Jahrhundert in der Schweiz aus. Der Ibisvogel mit langem Federschopf wird in Österreich und Deutschland erfolgreich wieder angesiedelt. Erste Vögel fliegen auch in die Schweiz. Der Beginn einer Rückeroberung?
Er hat Charakter und ist von herber Schönheit. Der Waldrapp ist ein besonderer Vogel. Seine Attraktivität zeigt sich auf den zweiten Blick. Die schwarzen Federn des Ibisvogels von der Grösse einer kleinen Gans schillern metallisch, die Federboa am Hinterkopf in Kombination mit dem langen, roten, gebogenen Schnabel verleiht ihm etwas Keckes. Der Schnabel ist eine Spezialisierung. Der Waldrapp oder Schopfibis ernährt sich bis zu 90 Prozent von Würmern und Larven. Der taktile Jäger stochert damit etwa 10 Zentimeter im Boden, fühlt seine Nahrung und zieht sie heraus, um sie zu verschlingen. Seine Augen sind im hinteren Bereich angelegt und eignen sich besonders zur Feindvermeidung.
Der Waldrapp ist in der Schweiz vor allem aus Zoos bekannt. Er wird in sieben öffentlichen Volieren und Zoos gehalten und gezüchtet. Im Freiland war er seit Hunderten von Jahren verschwunden. Plötzlich nun tauchen aber einzelne Exemplare auf. Dank eines Wiederansiedlungsprojekts im benachbarten Ausland gibt es immer mehr dieser Sonderlinge nördlich der Alpen, derzeit vornehmlich in Österreich und Süddeutschland. Dass der Waldrapp einst auch weite Teile der Schweiz bevölkerte, belegt der Schweizer Arzt und Naturkundler Conrad Gessner (1516–1565) aus Zürich in seiner 1555 herausgegebenen «Historia Animalum». Dort schreibt er von einem Vorkommen in Pfäfers GR im Taminatal. Eine historische Quelle liefert auch die Evidenz für ein Vorkommen im Sarganserland.
«Der Biologe Johannes Fritz ist Reiseleiter für junge Waldrappe.»
An verschiedenen Orten, etwa auch an der Sense im Schwarzenburgerland im Kanton Bern, deuten Orts- und Hofbezeichnungen auf den mittelalterlichen Ibis. Da gibt es beispielsweise eine Rappenflue, eine grosse Sandsteinwand, die zum Fluss abfällt. Gut möglich, dass dort einst Waldrappe brüteten, denn die sozialen Vögel bauen ihre Reisignester in Felsnischen. Das Wort Rapp kann allerdings auch für Rabenvögel stehen.
Waldrappe starben wohl einerseits aus, weil sie stark bejagt wurden. Andererseits scheint damals auch eine Klimaveränderung stattgefunden zu haben, denn das Verschwinden des Ibis fällt auch mit dem Auftreten der Kleinen Eiszeit zusammen.
Zugverhalten wird erlernt
Ein Ibisvogel wieder in der Schweiz? Ein reizvoller Gedanke, findet Christoph Flory, Vizepräsident von Pro Natura Aargau. Er erinnert sich an eine Beobachtung an der Reuss bei Künten-Sulz im Aargauer Reusstal: «Nach beharrlicher Suche, Geduld und etwas Glück entdeckte ich ihn an einem unerwarteten Ort: Er stand auf einem Kandelaber!»
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Der Waldrapp ist bereits länger Thema bei Pro Natura Aargau. Kein Zufall also, dass Ende Oktober Diskussionen und ein Informationsanlass zum Schopfträger im Naturama Aargau in Aarau stattfanden. Referent: Dr. Johannes Fritz aus Mutters in Österreich. Er fliegt seit 15 Jahren jeden Herbst in die südliche Toskana – mit einem Fluggerät mit Flugschirm. Der Biologe ist sozusagen Reiseleiter für junge Waldrappe, die erstmals in ihr Überwinterungsgebiet Laguna di Orbetello ziehen. Auch in diesem Herbst ist er wieder mit 40 Jungen geflogen. Der Waldrapp-Experte gründete 2002 das Waldrappteam und hat es geschafft, den Ibis als Zugvogel nördlich der Alpen wieder anzusiedeln. «Wir nehmen junge, zwei- bis dreitägige Waldrappe aus Zoohaltung in die Handaufzucht», erklärt er. Die Jungen werden von zwei Ziehmüttern in gelben T-Shirts aufgezogen. In einem Video zeigt er zwei junge Frauen, die in die langen Schnäbel von bettelnden grauen Wollknäueln Nahrung stopfen und dabei melodiös rufen: «Komm, komm, Waldi!» Dass dieser Ruf wichtig für die Vögel ist, zeigt sich auf dem Zug. Johannes Fritz und ein weiterer Pilot fliegen mit den beiden Ziehmüttern und grossen Flugschirmen über die Alpen. Der Flug sei anspruchsvoll, da die Waldrappe die Thermik nutzten. Ist sie ideal, steigen sie etwa fünf bis sechs Meter pro Sekunde. «Wir machen auf der 14- bis 20-tägigen Flugreise verschiedene Zwischenstopps. Die Ziehmütter halten stetig Rufkontakt mit den Waldrappen. Landen wir auf einer Wiese, folgen uns die Vögel.» Die jungen Waldrappe verbringen die Nächte geschützt in einer mobilen Voliere. Bis der Trupp schliesslich in der Laguna di Orbetello ankommt.
Johannes Fritz erklärt: «Im Herbst ist das Gehirnzentrum der jungen Waldrappe sensitiv, um die Zugroute zu erlernen. Wenn sie es dann nicht kapieren, lernen sie es nie.» Es sei wichtig, dass die Waldrappe migrierten und den Winter am Mittelmeer verbrächten. Sie seien so viel flexibler, was Veränderungen in der Natur beträfen. Fritz führt das Beispiel der einzigen überlebenden Waldrapp-Kolonie in Marokko an. Die Vögel dort ziehen nicht mehr und müssen nun mit zusätzlichem Wasser versorgt werden, weil es in der Gegend zu trocken geworden ist. Die Vögel sind auf das Gebiet fixiert und würden ohne Hilfe des Menschen aussterben. «Der Waldrapp ist ein Zugvogel», betont Fritz. In alten Berichten ist überliefert, dass die Vögel im Herbst einfach verschwanden. Wo sie hinflogen, war damals ein Rätsel. Heute ist bekannt, dass sie in mediterranen Lagunen und Feuchtgebieten überwinterten.
Eine Kolonie in Goldau?
«Wir fliegen mit den von Hand aufgezogenen Jungen im Herbst in den Süden, zurück finden sie selbst», sagt der Initiator der menschengeführten Migration für Waldrappe. Normalerweise verbringen die Jungen die ersten zwei bis drei Jahre in der Lagune in der Toskana. Mit drei Jahren werden sie geschlechtsreif und nehmen ihr natürliches Zugverhalten auf. 52 Prozent der ausgewilderten Waldrappe überleben das erste Jahr. Die häufigste Todesursache ist der Stromschlag auf Masten. Weiter ist die illegale Vogeljagt in Italien ein Problem. Die Überlebensrate der Jungen ist allerdings besser als bei anderen Arten, wie etwa dem Weissstorch.
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Viele der ausgewilderten Waldrappe sind mit Sendern versehen, so dass ihr Standort jederzeit ersichtlich ist. So wurde rasch klar, dass einige selbständig die Flugroute über die Schweiz gewählt haben. Johannes Fritz verrät: «Es gibt Ideen, die Art auch in der Schweiz wieder anzusiedeln. Die Schweiz ist Kernland des Waldrapps.» Sie weise, gemäss einer Studie, zahlreiche Biotope aus, die für den Ibis geeignet seien. Limitierend sei das Brutgebiet, Nahrungsgründe gebe es ausreichend. «Zooschweiz, die Vereinigung der wissenschaftlich geführten Zoos, steht hinter dem Projekt», betont Johannes Fritz.
Der Natur- und Tierpark Goldau gehört zu denProjektpartnern. «Wir sind vertraglich ins Projekt eingebunden als zukünftiger Standort für den Aufbau einer Kolonie in der Schweiz», sagt Dr. Martin Wehrle, Kurator des Parks. Im Rahmen dieses Projekts plane der Natur- und Tierpark Goldau eine neue, grosse Voliere für die Waldrappe. Es gebe dazu aber noch keine Projektierung und keinen Zeitplan, gibt Wehrle bekannt. Dr. Johannes Fritz hat bereits die Flugroute für frei lebende Waldrappe in der Region Goldau, die über den Gotthard führen würde, ausgerechnet.«Direkter geht es nicht mehr, Goldau und die Laguna di Orbetello liegen 550 Kilometer Luftlinie auseinander, ideal für den Vogel, der meist den schnellsten Weg wählt.» Selbstverständlich werde eine Wiederansiedlung nur ins Auge gefasst, wenn alle Bewilligungen vorlägen, schiebt Johannes Fritz nach.
Weder störend noch schädigend
Die Schweiz ist derzeit noch nicht bereit für den Ibis. Christoph Flory von Pro Natura Aargau erklärt, dass auf Bundesebene diskutiert werde, ob die Art überhaupt einheimisch sei. «Tiere, die vor 1500 hier lebten, gelten nicht mehr als einheimisch.» Die Waldrappe kümmert dies allerdings nicht. Immer mehr besuchen die Schweiz regelmässig. Eine Kolonie in Überlingen in Deutschland nördlich des Bodensees liegt sehr nahe der Schweiz, und die kecken Vögel haben schnell herausgefunden, dass die Nahrungssuche auch auf Schweizer Wiesen lukrativ sein kann. Gerade diese Vögel tendieren dazu, die westliche Flugroute in den Süden zu wählen, die über die Schweiz führt.
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In einem Eignungsindex mit Faktoren wie Feuchtigkeit, Höhe, Grasbewuchs und Wasser wurden Gebiete in der Schweiz ausgewiesen, die für den Waldrapp ideal sind. Von Genf bis zum Bodensee gibt es zahlreiche Lebensräume, die dem Waldrapp behagen könnten. Weshalb soll der Waldrapp wieder eingeführt werden? Hat die Schweiz nicht andere Probleme? Der Artenschwund ist dramatisch, sagen einige. Der Biologe Flory kontert, dass die gleiche Frage auch bei der Kunst gestellt werden könne. Was soll sie, wem nützt sie? Er sagt: «Der Waldrapp fasziniert, er macht Freude, es ist ein Abenteuer. Kinder haben die Eigenschaften, sich zu begeistern, Erwachsene fragen sofort, was es bringt.» Weder stören Waldrappe in irgendeiner Weise noch schädigen sie die Landschaft oder Kulturen. Flory findet, dass eine Diskussion müssig sei. «Freude ist das Gefühl, das zählt. Einen Waldrapp zu sehen, das tut gut!» So könnte es sein, dass dereinst auch in der Schweiz gerufen wird: «Komm, komm, Waldi!»
Steckbrief Waldrapp
Der Waldrapp (Geronticus eremita) ist einer von zwei Vertretern der Gattung Geronticus. Der andere ist der Glattnackenrapp aus Südafrika. Der Waldrapp hat nur dank Zoopopulationen überlebt. Unter Menschenobhut pflanzt sich der Ibis gut fort und erreicht ein Alter zwischen 25 und 30 Jahren. Ursprünglich kam er als Zugvogel auch nördlich der Alpen vor. Der Bestand reduzierte sich aber aufgrund von Bejagung und Klimaveränderungen auf wenige Standorte im Mittelmeerbecken. Schliesslich blieb noch eine kleine Kolonie in Marokko. Zwischenzeitlich konnte der Waldrapp durch das Lifeprojekt (waldrapp.eu) von Dr. Johannes Fritz wieder an fünf Standorten in Österreich und Deutschland mit Brutkolonien von total 240 Vögeln angesiedelt werden. Alle Waldrappe ziehen an den Überwinterungsort Laguna di Orbetello in Italien. Ziel ist eine überlebensfähige Population mit mehr als 340 Individuen. Längst pflanzen sich Waldrappe in der Natur fort, die genetische Variabilität der Vögel ist gut.
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