Die Kornnatter windet sich um die Hand von Carlos Rodriguez. Das Tier hätte eingeschläfert werden müssen, würde es das Refuge Reptile in Le Locle nicht geben. «Sie wurde illegal eingeführt, es handelt sich um eine in der Schweiz verbotene Mutation», sagt der Reptilienfachmann. Die Schlange hat keine Schuppen am Körper. «Sie ist darum sehr empfindlich und kann nicht wie ihre Artgenossen in einem natürlich ausgestatteten Terrarium leben», erklärt der Leiter der Reptilienauffangstation, während er das Tier zurück in einen mit Hanfstroh ausgestatteten Behälter setzt. Kurz darauf windet sich das Reptil züngelnd in ein Versteck.

Seit 2017 finden in der Auffangstation für Reptilien im Neuenburger Jura Schlangen und Echsen Aufnahme, die am Zoll konfisziert oder wegen falscher Haltung durch Kantonsveterinäre beschlagnahmt wurden. «Wir erhalten Tiere aus allen Landesteilen», sagt der Reptilienfreund Rodriguez. Ein Tierheim für Reptilien war eigentlich nicht sein Plan. Er hat zusammen mit seiner Frau, der Wildtierpflegerin Sandrine, privat Reptilien gehalten. «Ich interessiere mich seit Kindheit für diese Tiere», sagt er. Der Chilene spürte bereits in seiner Jugendzeit in seiner südamerikanischen Heimat Echsen und Schlangen in der Natur nach. Anfragen Privater, ob er und seine Frau ihre Reptilien übernehmen könnten und die Ermunterung des auf Reptilien spezialisierten Tierarztes Dr. Eric Lamouille führten zur Gründung des Tierheims für Schlange, Echse und Co.

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Carlos Rodriguez betont: «Dieses Metier ist sehr schwierig, Reptilien haben kaum eine Lobby, sie leiden stumm.» Miete, Terrarien-, Energie- und Futterkosten werden komplett über Spenden und Beiträge der etwa 100 Mitglieder finanziert. Es sei nicht einfach, Gelder zu generieren. Rodriguez und sein Team arbeiten ehrenamtlich. «Seit wir das Refuge haben, machen wir keine Ferien mehr», sagt er.

Katzen und Hunde würden bei den Leuten Bedauern erwecken, eine Schlange aber wolle kaum jemand. So wie Nagini. Die Dunkle Tigerpython wurde in einem Tessiner Wald gefunden, offenbar ausgesetzt von einem überforderten Halter, und lebt seither in einem Grossterrarium im Refuge Reptile. «Wenn es für die Leute finanziell schwierig wird, entledigen sich manche ihrer Reptilien», sagt Carlos Rodriguez. Die steigenden Strompreise hätten viele Halter zur Aufgabe der Reptilienhaltung gebracht. «Ein Terrarium zu betreiben, kostet Geld. Es muss belüftet werden, die Tiere brauchen eine wärmende Lichtquelle mit ultravioletter Strahlung sowie eine Grundbeleuchtung.»

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Rodriguez macht auch die unkontrollierte Zucht und ungenügende Kenntnisse verantwortlich für vernachlässigte und abgeschobene Reptilien. «Ein Leopardgecko kann 45 Jahre alt werden», betont der Fachmann, der von Kantonstierärzten als Experte beigezogen wird. Wer könne schon die nächsten 45 Jahre seines Lebens überblicken. «Gerade wenn sich Kinder ein solches Tier wünschen, plädiere ich für Insekten. Sie haben eine kurze Lebensdauer. Hier zeigt sich dann, ob ein Kind wirklich Interesse an der Terraristik hat.»

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Beziehung zum Reptil aufbauen

Die Lokalität nahe dem Bahnhof wurde bald zu klein. Heute ist das Tierheim für Reptilien im ersten Stock eines Gebäudes auf 300 Quadratmeter an der Rue des Envers 30 in Le Locle eingemietet. Derzeit leben um die 140 Reptilien dort.

Die attraktiv und natürlich eingerichteten Terrarien bieten ihnen optimale Lebensbedingungen. Da ist zum Beispiel das Jemen-Chamäleon Esmeralda, das eine fast zimmergrosse Anlage für sich allein bewohnt. Die ehrenamtliche Mitarbeiterin Leia Landry öffnet die Schiebetüre und betritt den Raum. Die Augen des wunderlichen Tiers kreisen, und als die junge Reptilienfreundin eine Grille hinstreckt, rollt es die lange Zunge aus. Der zappelnde Leckerbissen bleibt daran kleben.

Carlos Rodriguez verfolgt neue Ansätze im Umgang mit Reptilien. «Sie werden generell als Wildtiere mit wenig Gefühl angesehen. Das stimmt nicht», konstatiert er. Reptilien würden ihre Pflegerin oder ihren Pfleger sehr wohl kennen. «Wir beobachten sie, sie beobachten uns.» Darum propagiert der Fachmann, die Tiere behutsam zu sozialisieren. Er begründet dies so: «In Terrarienhaltung verbringen sie ihr ganzes Leben mit Menschen. Es ist kontraproduktiv, wenn sie angespannt oder gar gestresst sind.» Das strapaziere ihr Immunsystem, sie würden anfälliger gegenüber Krankheiten. Rodriguez fordert etwas, das normalerweise auf Heimtiere mit Fell angewendet wird: «Man sollte viel Zeit mit den Tieren verbringen. So lernt man die Charaktere der Individuen kennen und kann Fehler vermeiden.»

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Was er meint, zeigt sich bald bei den beiden Nashornleguanen, die wie kleine Drachen über Sand in ihrem grossen Terrarium kriechen. Sandrine Rodriguez betritt mit einer Schale mit Banane, Rüebli und Salat ihr Terrarium. Die beiden urzeitlich wirkenden Echseneilen zur Tierpflegerin. Sie lassen sich von ihr über ihre schuppige Haut streicheln, stemmen sich dabei genüsslich in die Höhe. Carlos Rodriguez ergänzt: «Die beiden erhielten wir direkt vom Zoll. Sie wurden illegal aus Hispaniola in die Schweiz eingeführt.»

Stress reduzieren

Wer Nashornleguane, Chamäleons und etwa Riesen-schlangen halten möchte, benötigt eine kantonale Haltebewilligung. Nicht so bei Bartagamen. «Sie werden oft missverstanden», sagt der Reptilienfachmann und erzählt von einem Exemplar, das 48 Verletzungen aufwies, als es ins Refuge kam. «Unsere Tiere werden immer durch den Tierarzt Eric Lamouille untersucht», sagt Carlos Rodriguez. Der Veterinär sei Vizedirektor der Institution.

Es sei möglich, mit einem Vertrag ein Reptil aus dem Refuge zu adoptieren. «Das Tier bleibt in unserem Besitz, es kann also, wenn die Haltung nicht mehr möglich ist, wieder zurückgebracht werden.» Allerdings kann nicht einfach ein Reptil ausgewählt und nach Hause genommen werden. «Die Person kommt mehrmals vorbei. Wir legen ein Tuch, das sie auf der Haut trug, in das Terrarium, sodass das Reptil mit dem Geruch vertraut wird. Das minimiert den Stress», erklärt Carlos Rodriguez. Jeder, der ein Reptil adoptiere, müsse einen Sachkundekurs absolvieren. Er betont, wie wichtig Aus- und Weiterbildung sei. Der Kurs, der im Refuge Reptile absolviert werden kann, deckt verschiedene Themen ab. Dazu gehören rechtliche Grundlagen, Kenntnisse der verschiedenen Reptiliengruppen, Wissen zur Überwinterung mancher Arten, das Erkennen von Krankheiten und die Prävention von Risiken.

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Die Wissensvermittlung schätzt auch der Schweizer Tierschutz (STS). «Die Bildungsangebote des Refuge Reptile, gerade auch für Kinder, sind sehr wichtig», betont Dr. Samuel Furrer, ehemaliger Leiter des Bereichs Wildtiere, in einem Schreiben. Das Refuge Reptile ist Mitglied des Verbands Schweizer Fisch- und Reptilienauffangstationen (VSFR) und damit eine Sektion des STS. Auch Reptilien haben nun ihre Arche. In Le Locle erhalten sie Pflege und warten auf neue Plätze.

Refuge ReptileRue des Envers 39, 2400 Le Locle (NE)
Besuchsmöglichkeit: jeden Mittwoch und Samstag von 14 bis 17 Uhr.
refuge-reptile.ch