Sie scheinen es zu ahnen. Bash, Bellis und Berlioz haben sich in dunkle Winkel verzogen. Tobias Blaha steht mit einem grossen Netz am Rand des Bassins, Nelly Bettens blickt gebannt ins trübe Wasser und ruft: «Dort in der Ecke ist er!» Blaha sticht zu, schon zappelt im Netz ein Reptil. Blitzschnell wendet der junge Direktor und Veterinär des Bioparc Genève den Köcher, sodass Bash nicht mehr hinausklettern kann. Jetzt greift Nelly zielsicher zu und fixiert das quäkende Reptil.

Bash, Bellis und Berlioz sind junge Wüstenkrokodile. Seit November 2020 leben sie im Bioparc in Bellevue bei Genf, wo sie sich besonders mit Nelly Bettens angefreundet haben. Die junge Biologiestudentin mit den langen schwarzen Haaren und dem herzlichen Lachen hat sich intensiv mit den drei Urtümlichen gefasst. Sie erzählt, wie es dazu kam: «Ich war schon seit einigen Jahren als ehrenamtliche Helferin im Bioparc tätig. Für meine Masterarbeit in Biologie an der Universität Lausanne suchte ich ein Thema.» Der Bioparc wollte damals eine Forschung zum Verhalten und zur Morphologie der Wüstenkrokodile durchführen.

Zu diesem Zweck erhielt der Park von der Aquatis, einem Grossaquarium und Vivarium in Lausanne VD, die drei Jungtiere, die dort geschlüpft waren. «Das war meine Chance!», freut sich die 23-Jährige. Der initiative Direktor des Bioparc richtete im Innenraum ein Terrarium ein – mit einfachsten Mitteln, aber hochprofessionell. «Das Wassergefäss besteht aus einer ehemaligen Kuhtränke», erklärt Tobias Blaha und fügt an: «Wir müssen kreativ sein, um tolle Sachen zu machen.» Rund um das Bassin wurde aus Holz ein breiter, überlappender Rand angebracht, ins Wasser führt eine Rampe, die Rückwand ist mit einer Schilfmatte ausgekleidet. Der mit Sand bestreute Rand bietet den Krokodilen Schutz, wenn sie im Wasser sind. Zudem dient er als Ruhe- und Wärmezone, wenn die Reptilien aus dem Wasser klettern. An besonderen Stellen können sie sich dort mit ultraviolettem Licht bestrahlen lassen.

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Mysteriöses Wüstenkrokodil

«Dank einer Kamera sahen wir, dass sie zuerst nur nachts, wenn alles still war, ans Land kamen», sagt Nelly Bettens. Wie sollte sie die scheuen Tiere studieren, wenn sie sich immer an düsteren, geschützten Stellen im Wasser versteckten? Die junge Genferin liess sich nicht entmutigen, lockte die Krokodile mit Grillen, Eintagsküken oder Fischen und sprach mit ihnen. Doch sie warf das Futter nicht einfach ins Wasser, sondern konditionierte die Jungkrokodile auf die Farben Grün, Rot und Gelb. An einer Stange präsentierte sie ihnen Kugeln in diesen Farben. Bash hat auf Grün zu reagieren, Bellis auf Rot, Berlioz auf Gelb. Anfangs tat sich gar nichts, doch die Reptilien lernten schnell. «Wenn Bellis oder Berlioz herbeigeschwommen kamen, wenn ich die grüne Kugel zeigte, erhielten sie kein Futter. Nur Bash durfte zubeissen, um zu fressen. Grün istseine Farbe.» Nelly Bettens und die Krokodile wurden rasch ein Team – aber nur sie. «Wenn jemand anderes das Gleiche versuchte und Futter anbot, kamen die Krokodile nicht», erzählt Tobias Blaha. Er konstatiert: «Ihre Intelligenz ist unglaublich.» Die drei urzeitlichen Echsen entwickelten einen starken Bezug zur Biologiestudentin, und umgekehrt ebenso. Spricht Bettens von ihren Pfleglingen, strahlt sie regelrecht.

Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 10/2022 vom 19. Mai 2022. 

Dank dem Training konnte Nelly Bettens die Kleinen irgendwann auch anhand ihres Charakters unterscheiden. Sie erkannte die Krokodile bald nicht nur aufgrund äusserer Merkmale, sondern auch aufgrund von Verhaltensweisen. So sei es jetzt auch kein Wunder, dass Bellis der Letzte ist, der aus dem Becken gefischt wird. «Er ist ein Draufgänger und aggressiv», sagt Bettens und schmunzelt. Bash bezeichnet sie als scheu, Berlioz als ruhig. «Klar geben wir unseren Tieren Namen», ergänzt der Direktor. Immerhin seien es alles Individuen, mit ganz unterschiedlichen Gemütern.

«Die Intelligenz von Krokodilen ist unglaublich.»

Tobias Blaha, Tierarzt und Direktor Bioparc Genève

Bash, Bellis und Berlioz droht nichts Schlimmes, doch sie treten eine grosse Reise an – zuerst in die Aquatis nach Lausanne und schliesslich in den Zoo Kopenhagen in Dänemark. Die drei konnten ihr Gewicht während dem Jahr im Bioparc mehr als verdoppeln und sind bis zu 75 Zentimeter lang geworden. Die Fangaktion verläuft ohne Probleme. Das Mundspülmittel mit Minzgeschmack, das Tobias Blaha für alle Fälle bereitgestellt hat, bleibt unbenützt. «Spritzt man ihm die Flüssigkeit in den Rachen, löst ein Krokodil, das sich in etwas verbissen hat, seinen Kiefer.»

Dank Bellis, Berlioz und Bash wird nun mehr zum äusseren Erscheinungsbild des Wüstenkrokodils oder Westafrikanischen Krokodils bekannt. Dies sei wichtig, bekräftigt Tobias Blaha, denn wie wolle man eine Art schützen, wenn man nicht genau beschreiben könne, wie sie aussehe und sich verhalte? Das in Westafrika verbreitete Krokodil sieht äusserlich sehr ähnlich wie das Nilkrokodil aus, ist aber mit etwa zwei Metern deutlich kleiner. Ihre Verwandten aus dem Nil hingegen werden zwischen drei und vier Meter lang. Nelly Bettens stellt zudem klar: «Das Verhalten des Wüstenkrokodils ist ruhiger, es ist weniger aggressiv als das Nilkrokodil.»

Krokodile auf dem afrikanischen Kontinent leben auch an Orten, wo man sie nicht vermuten würde, umgeben von endlos scheinenden Dünen, beispielsweise in der spektakulären Guelta d’Archei zwischen Tschad und Sudan. Dabei handelt es sich um eine Schlucht mit Wasser in einem markanten Gebirge inmitten der Wüste. Auch in einigen mauretanischen Provinzenleben isolierte Populationen des Wüstenkrokodils in Oasen und Quellwasserspeichern mit teilweise halb unterirdischen Gewässern in Schluchten und Gebirgen. Wie die Jungkrokodile im Bioparc sind die Krokodile der Sahara ausserordentlich scheu.

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Die Wüstenkrokodile ernähren sich von Fischen, Fröschen oder Tauben und werden Menschen oder trinkenden Säugern nicht gefährlich. Wegen der weniger aggressiven Art und geringen Grösse war das Wüstenkrokodil bereits im alten Ägypten populär. Es galt als heilig, wurde in Teichanlagen gehalten, die dem Krokodilsgott Sobek geweiht waren, und wurde mumifiziert.

Letzte Überlebende

Das Wüstenkrokodil oder Westafrikanische Krokodil war einst bis fast ans Mittelmeer verbreitet. Die Sahara war nicht immer eine Sandwüste, sondern lange ein savannenähnliches Gebiet, wie es heute noch in Ostafrika existiert. Davon zeugen Felszeichnungen, die eine üppige Tier- und Pflanzenwelt zeigen. Noch der deutsche Forscher Heinrich Barth (1821–1865), der von Tripolis in Libyen über den Tschad-See bis nach Timbuktu quer durch die Sahara reiste, zeichnete Pflanzen und Tiere, die er vor gut 170 Jahren an Orten feststellte, wo heute nur noch Dürre herrscht. Die letzte Feuchtperiode in der zentralen Sahara endete 2500 vor Christus, klang aber langsam aus. Offenbar sind die Wüstenkrokodile die letzten Überlebenden ihrer Art. Doch es kommt noch spannender. «Wir fanden heraus, dass das Wüstenkrokodil näher mit den amerikanischen Krokodilen verwandt ist als mit dem Nilkrokodil», sagt Nelly Bettens und führt mit dieser Aussage auf eine verrückte Fährte.

Schon gewusst?
Krokodile haben ein vierkammriges Herz. Dies rückt sie verwandtschaftlich näher zu den Vögeln als zu den Reptilien. An der Studie zur Unterscheidung des Nilkrokodils (Crocodylus niloticus) und des Wüstenkrokodils (Crocodylus suchus) beteiligen sich der Bioparc, die Aquatis, das Musée d’histoire naturelle Genève, die Universität Lausanne und die Crocodile Specialist Group der IUCN. Die IUCN ist eine global tätige Naturschutzorganisation mit Sitz in Gland VD. Aufgrund der zahlreich gesammelten DNA-Analysen durch Nelly Bettens in Naturhistorischen Museen und Zoos europaweit, wird es Zoos und Museen möglich, ihre Krokodilsammlungen zu überprüfen.
bioparc-geneve.ch oder aquatis.ch

Wird der südamerikanische Kontinent wie bei einem Puzzle an den afrikanischen angefügt, stellt man fest, dass beide Teile gut zueinander passen – und dass der Amazonas die Fortsetzung des heutigen Flusses Niger ist. Vor mehr als 150 Millionen Jahren bildete Südamerika mit Afrika, Australien und der Antarktis den Urkontinent Gondwana. Gigantische Kräfte aus dem Erdinnern sollen nach der Theorie der Plattentektonik dazu geführt haben, dass der Urkontinent vor 145 Millionen Jahren begann auseinanderzubrechen. Ob das vormals grüne Leben und die Wüstenkrokodile der Sahara letzte Zeugen dieses Prozesses sind?

Dank Presslufthammer zur Zucht

Bash, Berlioz und Bellis kümmern solche Mutmassungen nicht. Sie wurden derweilen alle vermessen und gewogen, zudem wurden ihre Chips abgelesen. Nun liegen sie in einer Plastikbox und äugen mit ihren smaragdgrünen Augen mit der länglichen, schwarzen Pupille misstrauisch nach oben. Tobias Blaha und Nelly Bettens schliessen den Deckel des Behälters und fahren damit ins Aquatis Aquarium-Vivarium nach Lausanne, wo auch ihre Eltern leben. Empfangen werden sie von der Kuratorin Sabine Wirtz. Die Alttiere seien gut 40 Jahre alt, sagt diese. Per DNA-Analyse seien sie als Crocodylus suchus, also als Wüstenkrokodile, bestätigt worden und aus Israel über Frankfurt ins alte Vivarium Lausanne gelangt. «Als dort umgebaut und mit einem Presslufthammer gearbeitet wurde, löste das den Bruttrieb der Reptilien aus.»

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Die Erschütterungen und die Akustik wurden von den Krokodilen vermutlich für ein heftiges Gewitter gehalten. Gewitter lösen oft auch in der Natur den Bruttrieb aus, da sich dann auch Fische und übrige Tiere vermehren – eine Nahrungsgrundlage für die Jungen. Eine erste Nachzucht sei geglückt. Das Vivarium sei schliesslich in die Aquatis eingegliedert worden. Seither leben die Krokodile im Grossaquarium in einer besonderen, ihrem Lebensraum nachempfundenen Anlage. «Heute stimulieren wir sie zur Zucht durch die Absenkung der Wassertemperatur.» Das Weibchen lege etwa 20 bis 25 Eier, stellt Wirz klar. Die Brutzeit dauere um 85 Tage.

Bash, Berlioz und Bellis sind zwischenzeitlich im Quarantäneraum der Aquatis in einem Bassin einquartiert worden. Nelly Bettens schaut ein letztes Mal mit trauriger Mine nach ihren Pfleglingen, bevor sie mit Tobias Blaha zurück nach Genf reist. Doch die beiden haben bereits neue Pläne. «Junge Nilkrokodile wären nun ideal, um direkte Vergleiche anstellen zu können», meint Tobias Blaha. Und Nelly Bettens lächelt.