Sie sind Dozent für Tourismus. Womit beschäftigen Sie sich besonders, Herr Professor Wagenseil?

Primär mit der Entwicklung von Destinationen respektive auch mit einer nachhaltigen Entwicklung von Ferienorten.

Heisst das, dass neue Orte touristisch erschlossen werden?

Nein, es geht um Orte, die den Tourismus schon entdeckt haben, aber die damit mehr erreichen möchten. Ein gutes Beispiel ist Gstaad: Der Tourismus ist dort sehr präsent und bedeutsam, aber man möchte ihn noch spezifischer und gezielter weiterentwickeln. Es geht also um Orte mit viel oder um solche mit unstrukturiertem Tourismus. Destinationen zu entwickeln, heisst, den Tourismus in Bahnen zu lenken unter Einbezug der Umweltaspekte.

Warum reisen Menschen?

Es gibt viele individuelle Motive, aber zusammengefasst sind es Geschäftsreisen, Ferienreisen, religiös motivierte Reisen und Reisen, um Verwandte zu besuchen.

Was verstehen Sie unter nachhaltigem Tourismus?

Das ausgewogene Balancieren der vier Säulen Ökologie, Soziales / Kulturelles, Ökonomie und gezieltes Management. Zusammen ergeben sie ein gesamtheitliches Miteinander. Im Gegensatz dazu orientiert sich herkömmlicher Tourismus hauptsächlich an ökonomischen Zielen wie Entwicklung von Arbeitsplätzen und finanziellen Gewinnen für Unternehmen.

Wenn der grösste Teil der Weltbevölkerung nachhaltig reisen würde, kollabierte die Welt. Reisen ist den wohlhabenden Schichten vorenthalten. Ein Glück?

Schweizer sind Reiseweltmeister. Seit den 1960er-Jahren reisen wir in Massen und belasten das Gesamtsystem. Auch Menschen anderswo haben das gleiche Bedürfnis. Wenn die Bevölkerungen in Indonesien, China und Indien sich reisetechnisch gleich verhalten würden wie wir, dann hätten wir ein gewaltiges globales Problem. Es wird künftig noch mehr Leute geben, die unterwegs sein werden. In diesem Kontext ist nachhaltiger Tourismus umso wichtiger, damit die negativen Wirkungen des Tourismus eingedämmt werden können.

Gibt es eine ökologisch vertretbare Variante, in ein tropisches Land zu reisen?

Grundsätzlich schon, aber dann sprechen wir von terrestrischer Fortbewegung, und wir melden uns nicht für 14 Tage ab, sondern so lange wie möglich. Alles unter zwei Wochen im Langdistanzbereich ist ökologisch nicht vertretbar. Fliegen ist wegen des CO2-Ausstosses heikel. Es geht aber nicht nur um die CO2-Thematik, sondern die Reisenden sollten sich mit dem Land auseinandersetzen, sich bewusst sein: Ich bin nicht nur Reisender, sondern ich bereise ein Land und habe entsprechenden Einfluss auf die Orte und die Menschen dort.

Was zeichnet eine nachhaltige Reise aus? Gibt es spezielle Anbieter?

Grosse Schweizer Reiseanbieter haben den Aspekt nachhaltiger Reisen sehr früh aufgenommen. Oft führen Reisen an Orte, wo die Natur und die sozialen Strukturen sehr fragil sind, so wie bei uns die Alpenwelt. Die Veranstalter wurden früh mit Negativkonsequenzen konfrontiert und änderten darum ihre Strategien. Reiseleiter wurden geschult, Zusammenarbeitspartner, Aktivitäten, Ausflüge und Unterkünfte mit Bedacht gewählt, sodass sie den Nachhaltigkeitsaspekten nahekommen. Viele dieser Veranstalter sind zertifiziert. Das heisst, dass das Geschäftsmodell der Veranstalter regelmässig überprüft wird. In der Schweiz kennen wir zum Beispiel das Nachhaltigkeitslabel Tour Cert. Wer da bucht, hat einen Partner, dem das Thema kein Fremdwort ist und der erwiesenermassen etwas tut für Nachhaltigkeit.

Bringen Kompensationszahlungen für Flugreisen etwas? Auch wenn ich mehr bezahle für den Flug, verringert sich der CO2-Ausstoss dadurch ja nicht.

Es ist immer noch besser, als nicht zu kompensieren. Besser, man macht einen halben Schritt als keinen.

Viele Naturreisen sind auffallend teuer. Wer macht da das grosse Geld?

Vermutlich niemand. Leistungsketten solcher Reisen sind umfangreich und viele Akteure sind involviert. Naturreisen führen weg von den grossen Städten. Transport-, Aktivitäts-, aber auch Unterkunftskosten sind darum höher, denn meist werden kleinere bis mittlere Betriebe ausgewählt, welche die Fixkosten nicht über ein Massengeschäft decken können. Die Teilnehmerzahl solcher Reisen ist meist klein, sodass pro Teilnehmer höhere Kosten anfallen.

Wie wird sichergestellt, dass die lokale Bevölkerung profitiert?

Die Berücksichtigung von lokal geführten Unterkünften hilft, das Geld im bereisten Land zu belassen; internationale Hotelketten oder Anbieter transferieren häufig gewisse Anteile in Richtung Herkunftsland. Beim Essen, beim Restaurantbesuch oder bei der Automiete ist es gleich. Will man dem Land und seiner Bevölkerung etwas guttun, dann berücksichtigt man lokale Anbieter und Angebote sowie Produkte örtlicher Marken.

Gäbe es viele Naturschutzgebiete weltweit ohne Tourismus nicht?

Reisen können ökologisch betrachtet verteufelt werden, Tatsache aber ist, dass viele Regionen und Naturräume den Tourismus brauchen. Wenn er intelligent betrieben wird, wird neues Geld von aussen generiert, das vor Ort für Unterhalt, Pflege und Schutz eingesetzt werden kann. Nach diesem System werden etwa viele Nationalparks erhalten. Während der Covid-Zeit zeigten sich die Auswirkungen des ausbleibenden Tourismus auch so, dass in vielen Reiseländern der Naturschutz reduziert werden musste.

Oft reisen Vogelbeobachter und Naturliebhaberinnen viel und weit. Ein Widerspruch?

Eine Frage mit einer klassischen Ja- und Nein-Antwort. Um von A nach B zu reisen, werden Emissionen generiert. Grundsätzlich haben Naturreisende aber eine erhöhte Sensibilität punkto Flora und Fauna. Man darf annehmen, dass sich diese Leute bei der CO2-Kompensation und vor Ort verantwortlicher und rücksichtsvoller verhalten.

Sehen Sie Reisen mehr als Segen oder als Fluch?

Über alles gesehen klar mehr als Segen. Die Entwicklung vieler Regionen dieser Welt, auch der Schweiz, ist auch durch das Reisen entstanden. Reisen ist eine einmalige Lebensbereicherung. Die Problematik ist, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Die Ausrichtung auf nachhaltigen Tourismus setzt bei den negativen Folgen des Reisens an und verhindert oder verringert sie. Dazu können Tourismusanbieter, Destinationen, aber auch ganz entscheidend die Reisenden selbst beitragen. Auch dazu möchte ich ermutigen.

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Zur PersonProfessor Urs Wagenseil ist Tourismus-Experte und Dozent an der Hochschule Luzern. Der diplomierte Turn- und Sportlehrer der Universität Basel hält auch einen Bachelor of Business Administration und amtete unter anderem als Tourismus-Direktor. Er ist seit 30 Jahren in der Touristikbranche tätig und beschäftigt sich vorwiegend mit nachhaltiger Tourismusentwicklung.