Felsensteppe, Weinberge und Suonen
Exkursionen in der Walliser Lötschbergregion
Die Lötschbergregion im Wallis ist anders. Mittelalterliche Dörfer, Steinmauern und Reben verbreiten mediterrane Stimmung. Eine Wanderung entlang von Suonen ins Bergtal.
Knacken im Gebüsch. Ein Reh verschwindet im Dickicht. Doch da duckt sich noch etwas Braunes ins hohe Gras der Lichtung. Das Kitz bleibt zurück und vertraut auf seine Tarnung wenig unterhalb des Wegs im Baltschiedertal entlang der Suone Gorperi im Wallis.
[IMG 7]
Suonen sind offene Wasserleitungen, deren Existenz in der Geschichte weit zurückreicht. Die meisten sind vor 900 bis 1000 Jahren entstanden. «Sie bringen das kostbare Wasser aus den Bergtälern in Dörfer», sagt Treui. Mit vollem Namen heisst der Wanderleiter und Vermessungstechniker Treuhold Berchtold. Er ist in Eggerberg aufgewachsen und macht sich an einem Samstagmorgen im Juni mit einer kleinen Gruppe im oberen Dorfteil Eggen auf den Weg. Mohnblumen leuchten rot, im Hintergrund verschneite Berge, weit unten das Rhonetal. Dann schliesst sich das Blätterdach mit Eschen, Holunder, Tannen, Ahorn und Ulmen. Steter Begleiter: klares, glucksendes Wasser. «Das Typische der Suonen ist ihr geringes Gefälle. Das Wasser soll von den Bergbächen in den Talkesseln möglichst weit in die Dörfer auf Plateaus oberhalb des Walliser Haupttals führen», erklärt der Wanderleiter.
[IMG 2]
Aus einer Baumhöhle in einem morschen Stamm einer abgestorbenen Tanne fiept es aufdringlich. Junge Buntspechte, die nach Futter heischen? Kurz vorher rief nämlich ein Altvogel irgendwo aus der Baumkronenschicht. Plötzlich mischt sich ein monotoner, lauter werdender Treichelschlag in die natürliche Geräuschkulisse. Treui zeigt auf ein kleines, hölzernes Wasserrad in der Suone. Bei jeder Umdrehung hebt ein Keil ein Holz, das auf eine Treichel schlägt. «So hört der Wasserwächter, dass es fliesst, und er braucht nicht extra hinzukommen.»
[IMG 3]
Seit jeher müssen die Suonen kontrolliert, gepflegt und repariert werden. Das ist gefährlich. Früher kamen Dorfbewohner dabei ums Leben.
Zuhinterst im Talkessel stürzt schäumendes Wasser von der Bergflanke. Eine Felsenplatte eignet sich als Picknickplatz. Der Weg zurück entlang der Suone Niwärch auf der rechten Seite des Baltschiedertals ist anspruchsvoll. Treui warnt: «Hier muss man sich konzentrieren.» Das heisst: sich am teilweise vorhandenen Seil oder am Felsen festhalten und mit sicheren Tritten über den Holzsteg gehen. Zwischen Steg und Felsen fliesst das Wasser in einem Holzkänel.
[IMG 10]
Der Wanderleiter sagt: «Zum Bau der Suone Niwärch wurde im italienischen Genua ein 200 Meter langes Seil gekauft.» Damit seien an den Felswänden die Känel abgeseilt worden. In waghalsiger Arbeit wurden sie von Männern am Felsen montiert. Wo es ging, wurde in den Felsen ein Absatz gehauen, wo der Känel und ein schmaler Weg daneben Platz fanden. Bei abschüssigen Stellen werden Weg und Suone talseitig mit einem besonderen System gesichert. Treui erklärt: «Die Wege werden Tretschbord genannt und seit alters her mit quer gestellten Steinen und Erde erstellt. So sind sie besonders stabil.» Erst ab 1930 seien Felssprengungen möglich geworden, sodass das Wasser, anstatt aussen um die Felsen, durch sie hindurch geleitet wurde. So fliesst auch das Hauptwasser der Suone Niwärch heute durch einen Felsentunnel. Die Suone ausserhalb des Bergs wird als Sehenswürdigkeit erhalten.
[IMG 4]
Das grüne Band am Hang
Im Talgrund rauscht der Bach, die Suone plätschert, ringsherum hohe Berge, vorne das offene Rhonetal. Die spektakuläre Suonenwanderung im Baltschiedertal bietet auf Schritt und Tritt pittoreske Ausblicke. Farne und Moose spriessen an feuchten, schier senkrechten Felsen. Über den Schotter sonnenexponierter, trockener Stellen kriecht Hauswurz, Sevisträucher und Wacholder verstärken die mediterrane Atmosphäre. In saftigen, sumpfigen Wiesen entfaltet sich das Gefleckte Knabenkraut, die Türkenbundlilie reckt ihre spektakulären Blüten der Sonne entgegen.
[IMG 11]
Dank der Suonen leuchten die Matten in den Bergdörfern grün. Im regenarmen Wallis würden sie sonst im Sommer dürr. «Früher wurden die Wasserrechte auf Holztäfelchen festgehalten, es war genau geregelt, wie lange jemand Wasser auf sein Feld leiten konnte», erklärt Treui. Heute würden die meisten Wiesen mit Sprinkler bewässert, was für manche Vogel-, Insekten- und Pflanzenarten wegen des Tropfenschlags nicht unproblematisch sei.
[IMG 8]
Was Wasser bewirkt, das kontinuierlich versickert, zeigt sich an den sonnenexponierten Bergflanken. Dort, wo sich ein grüner Gürtel entlang eines Trockenhangs zieht, verläuft eine Suone. «In den 1970er-Jahren fand man, dass zu viel Wasser versickere, und verlegte die Suonen in PVC-Rohre», erklärt Treui. Die Folge: Die Tretschborde rutschten ab, da die Pflanzen wegen des Wasserentzugs abstarben. «Das Wurzelwerk der Pflanzen festigt die schmalen Gehwege.» Heute fliesst das Wasser in den Suonen wieder in alter, bewährter Form. Die Wasserleitungen werden von Gemeindearbeitern oder im Gemeinschaftswerk betreut.
Es ist wohl kaum irgendwo sonst möglich, so rasch das Ambiente zu wechseln, wie im Wallis. Eben noch dominierte typische Alpenatmosphäre, jetzt grenzen Trockenmauern Reben ab, mittelalterliche Dörfer mit Häusern aus Stein krallen sich an die Bergflanke, weit unten im Tal glitzert das milchige Wasser der Rhone. Die Wanderung vom Baltschieder- bis an die Flanke des Rhonetals über Ausserberg und St. German bis nach Raron führt durch die Kulturgeschichte und bietet naturkundliche Leckerbissen.
[IMG 6]
«Hier, der Gartenrotschwanz, er sitzt immer auf der Antenne», sagt Ruedi Salzgeber. Der pensionierte Sekundarlehrer aus St. German betreut seinen eigenen Weinberg und arbeitet ehrenamtlich für den Brutvogelatlas der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Er betont: «Wiedehopf und Zippammer sind typische Vögel dieser Kulturlandschaft.» Tatsächlich fliegt kurz vor Raron ein Wiedehopf oberhalb des Wegs über die Reben. Diese spektakulären Vögel mit Haube überwintern im tropischen Afrika und brüten im Wallis in Baum- und Steinhöhlen, die sich auch in Trockenmauern der Rebenterrassen bilden.
[IMG 9]
Während die Kirche von St. German aus dem 8. Jahrhundert stammt und eine Goldene Statue des heiligen Antonius von Ägypten beherbergt, prangt in der Kirche von Raron an der Wand ein seit Baubeginn ab 1512 bestehendes mystisches Gemälde des Jüngsten Gerichts. Es wurde im 17. Jahrhundert übermalen und erst 1923 wiederentdeckt. Ausserhalb der Kirchen-mauer erinnert ein Grab an den österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke.
[IMG 5]
Das Wallis ist eine uralte Kulturlandschaft. «Erste menschliche Siedlungen wurden auf dem Heidnischbiel gefunden», erklärt Ruedi Salzgeber. Das Rhonetal sei nach dem Rückzug des Gletschers eine versumpfte Landschaft gewesen. Die Menschen hätten sich darum auf Hügeln angesiedelt. Das würden zahlreiche Fundstücke belegen. Der Hügel Heidnischbiel zwischen St. German und Raron wurde durch den eiszeitlichen Rhonegletscher geschaffen. Eine Nachtigall singt ihr märchenhaftes Lied in den frühen Abend mitten in einer Landschaft voller Poesie, Geschichte und besonderer Pflanzen und Tiere.
Diese Reportage wurde von «Lötschberg-Region – An der Südrampe» ermöglicht.
Lötschberg-Region
- Suonenwanderung: Von der Postautostation Eggerberg, Eggen(Kurs 523), aus der Suone Gorperi entlang ins Baltschiedertal, zurück der Suone Niwärch entlang nach Ausserberg. Nur Schwindelfreie folgen der Suone Niwärch, ansonsten führt ein Weg durch einen Stollen. Taschenlampe erforderlich. 4 bis 5 Stunden.
- Niedergesteln: Mittelalterliches Dorf mit erster urkundlicher Erwähnung im 12. Jahrhundert.
- Raron: Burgkirche und Viztumschloss aus dem 12. Jahrhundert, Grab des österreichischen Lyrikers Rainer Maria Rilke, mittelalterlicher Dorfkern und Felsenkirche.
- St. Germann: Südlich ausgerichtetes Dorf in windgeschützter Mulde, bekannt für seine Reben und traditionellen Trockenmauern.
- Übernachtung: Beispielsweise im Hotel Kapitel 7 in Raron.
Bitte loggen Sie sich ein, um die Kommentarfunktion zu nutzen.
Falls Sie noch kein Agrarmedien-Login besitzen:
Jetzt registrieren