Im Rausch der grünen Fee
Der Jura: Wiege des Absinths
Im Val-de-Travers gab es immer Absinth – auch in der Zeit, als die Produktion und der Konsum noch verboten waren. Auf den Spuren eines legendären Getränks mit dem Beigeschmack des Verbotenen.
Charles Baudelaire, Paul Gauguin, Edgar Allan Poe, Arthur Rimbaud, Henri de Toulouse-Lautrec und Oscar Wilde – sie alle waren dem Absinth verfallen. Es war das Getränk der grossen Künstler des Fin de Siècle. Der Künstler Vincent van Gogh schnitt sich angeblich im Rausch ein Ohr ab. Um kaum ein Getränk ranken sich so viele Mythen, und alles begann in einem kleinen, verschlafenen Dorf in der Schweiz.
Der Ort Couvet im schweizerischen Val-de-Travers gilt als Wiege des Absinths. Hier wurde der legendäre Kräutertrank Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erstmals von Marguerite Henriette Henriod destilliert. Die verschiedenen Zutaten klingen wie eine Sammel-bestellung bei der Bioapotheke: grosser und kleiner Wermut, Beifuss, Sternanis, Ysop, Zitronenmelisse und Fenchel. 80 Liter reiner Alkohol auf 20 Kilogramm Kräuter. Heraus kam ein starker Likör aus Heilkräutern, der bei Magen-Darm-Problemen und Reisekrankheit helfen soll.
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Ende des achtzehnten Jahrhunderts kaufte Major Daniel Henri Dubied-Duval das Rezept der Mutter Henriod ab und gründete mit seinem Schwiegersohn die erste Absinthbrennerei. Anfangs wurden täglich rund16 Liter produziert. Der grösste Teil der Produktion ging ins nahe Frankreich. Um die umständlichen Zollformalitäten zu umgehen, gründete Schwiegersohn Henri-Louis Pernod bald darauf seine eigene Brennerei im französischen Pontarlier unter dem Namen «Pernod Fils» und produzierte dort anfangs täglich 400 Liter.
In den folgenden Jahren war Absinth eine regio-nale Spezialität und wäre es auch geblieben, hätte Frankreich nicht Algerien kolonialisiert. Die französischen Soldaten, die 1830 in Nordafrika stationiert wurden, bekamen alle eine Ration Absinth zugeteilt, um damit das Trinkwasser zu sterilisieren – ein paar Tropfen Absinth zum Schutz vor Malaria und Ruhr. Andere nahmen es, um ihre Verdauungsprobleme zu lindern.
So kamen die Soldaten nach und nach auf den Geschmack. Ja, den Soldaten schmeckte das Getränk so gut, dass sie auch nach ihrer Rückkehr nach Frankreich nach ihm verlangten. Schick war dieser exotische Alkohol und ganz Paris wurde von der betörenden Fee des Orients in den Bann gezogen. Schon bald trank man in Frankreich fast nur noch Absinth als Aperitif.
Der Untergang des Weins
Etwa zur gleichen Zeit erlebten die Winzer eine riesige Katastrophe. Der Mehltau und die Reblaus, eine Pilzkrankheit und ein Schädling, vernichteten praktisch alle Weinreben. In weniger als zehn Jahren waren zwei Drittel der europäischen Weinberge verschwunden. Dies hatte zur Folge, dass die Weinpreise in die Höhe schossen und der Absinth sich mehr und mehr ins Rampenlicht setzte.
Die Bürgerschicht fand das Getränk exotisch, für die Arbeiter war er bezahlbar und zudem auch viel stärker als Wein – und Künstler tranken ihn wegen seines mysteriösen Rausches, welcher angeblich die Sinne erweiterte und die Kreativität anregte. Poeten und Künstler fanden ihre Inspiration im Absinthglas. Gepaart mit der Entfaltung des Jugendstiles, der von organischen Formen aus der Natur geprägt ist, wurde der Absinth Teil dieser Kunstströmung. Die grüne Fee, wie der Absinth bald genannt wurde, wurde zur Muse der Künstler. Binnen kurzer Zeit trank man ihn nicht nur in der Schweiz und Frankreich, sondern auch in Madrid, Brüssel, Prag und in Übersee.
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Schnell eroberte der Absinth ganz Europa. In Paris wurde die Aperitifzeit zwischen fünf und sieben Uhr als «L’Heure Verte», die grüne Stunde, bezeichnet. Auf den Tischen wurden Wasserkaraffen, Stielgläser aus Kristall, Zuckerdosen und elegant perforierte Silberlöffel und Absinthflaschen verteilt. Manchmal auch eine Wasserfontäne. Allein in der Region Paris gab es fast 70 Brennereien.
Die Firma Pernod steigerte ihren Ausstoss auf täglich 20 000 Liter. Im Val-de-Travers, seinem Ursprungsort, wurden die Uhrmacherkunst und die Spitzenherstellung zugunsten der industriellen Absinthproduktion aufgegeben. Fast die gesamte Landwirtschaft wurde auf den Wermutanbau ausgerichtet. Im Kanton Neuenburg gab es insgesamt 17 Brennereien, davon alleine 13 im Bezirk Val-de-Travers. Diese brauchte man auch, denn schon nur in Frankreich wurden um die Jahrhundertwende 36 Millionen Liter Absinth pro Jahr getrunken. Und auch in der Romandie wurden ungefähr zwei Liter pro Einwohner und Jahr konsumiert. Jede Klasse, jedes Alter, jedes Geschlecht trank Absinth.
Doch die Popularität des Getränks sollte auch seinen Untergang herbeiführen. Der Kampf um die Vormachtstellung in der Alkoholindustrie wurde schmutzig geführt. Wein galt als gesund, er zählte damals sogar zu den Grundnahrungsmitteln. Absinth hingegen wurde als das Getränk des Teufels verschrien. Absinth bekam mehr und mehr einen zweifelhaften Ruf. Er stand sinnbildlich zwar für die Boheme und künstlerische Inspiration, aber auch für Wahnsinn, Mord oder Selbstmord. Das lag an einer der wichtigsten Zutaten des Absinths: dem Wermutkraut.
In dessen Blättern steckt ein «tödliches» Gift, das neurotoxische Thujon, welches in grösseren Mengen ab 140 Milligramm Halluzinationen und gefährliche Krämpfe auslöst. Die Grüne Fee lag im Dreck. Bei ihren Anhängern wurde «Absinthismus» diagnostiziert. Mit Versuchen an Meerschweinchen wurde aufgezeigt, dass die Spirituose zu Geisteskrankheiten führt. Der Mythos des gefährlichen Absinths war geboren.
Neuere Forschung zeigen jedoch, dass man mehrere Liter Absinth trinken könnte – und nicht wegen des Thujons, sondern eher an einer Alkoholvergiftung sterben würde. Die damals festgestellten gesundheitlichen Schäden werden heute auf die schlechte Qualität des Alkohols und die hohen konsumierten Mengen zurückgeführt. Und das so gefürchtete Krankheitsbild des «Absinthismus» beschrieb also in Wirklichkeit nicht viel mehr als die Leiden eines Alkoholikers.
Der Weg in die Illegalität
Für das Massenelend des Alkoholismus gab es für die Mediziner und Sittenwärter bald nur noch einen Sündenbock – den Absinth. Die Katholische Kirche, die Frauenbewegung und Antialkoholverbände taten alles, um Absinth zu verteufeln. 1905 tötete ein Landarbeiter in der Schweizer Gemeinde Commugny unter dem Einfluss von Absinth seine Frau und seine beiden Töchter.
Den Winzern kam dies natürlich gelegen und so schlossen sie sich mit dem Blauen Kreuz zusammen, um eine Volksinitiative zu starten. Die Petition gegen denAbsinth sammelte 400 000 Unterschriften. 63 Prozent der Schweizer stimmten dafür, und somit machte 1910 das «Bundesgesetz über das Absinthverbot» dem Rausch ein Ende. Fortan waren Herstellung, Einfuhr, Transport, Verkauf und Aufbewahrung von Absinth verboten. Die Grüne Fee lag am Boden – und stand für fast hundert Jahre nicht mehr auf. Aber ihr Geist war so leicht nicht abzutöten.
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Der Absinth wurde ein Jahrhundert lang in aller Illegalität vor allem in seiner Ursprungsregion weiter hergestellt. Absinthbrenner brannten im Verborgenen und riskierten hohe Strafen. Das Val-de-Travers war arm, man lebte dort vom Wermutanbau, dem Verkauf des getrockneten Krauts und der Absinthdestillation. Nach dem Verbot liess die Schweizer Regierung die Wermutfelder im Tal unterpflügen – doch mit dem Brennen ihrer Grünen Fee hörten die Bewohner trotzdem nicht auf.
Die Pflanzen verbreiteten weiterhin ihren Duft auf den Dachböden und der Geruch von Anis zog in regelmässigen Abständen durch die Gassen. Im Schatten der Illegalität wurden in schätzungsweise fünfzig versteckten Destillerien an die 10 000 Liter jährlich destilliert und heimlich in verschiedene Teile der Schweiz verkauft. Doch mit dem Verbot ging das gesamte Trinkritual verloren. Fontänen, Löffel und Stielgläser verschwanden aus den Kneipen. Das Getränk durfte nur noch heimlich verkostet werden. Für Absinth wurden Decknamen wie Ziegenmilch oder Juramilch erfunden, welche in Ovomaltine-Bechern getarnt serviert wurde.
Erst seit 2005 darf das mythische Getränk wieder legal hergestellt und konsumiert werden. Heute istAbsinth wieder im Trend. Der Alkohol ist hip – eine ganze Barkultur hat sich um dieses Kultgetränk gebildet, vielleicht gerade weil ihm etwas Verruchtes anhaftet. Hinzu kommt das besondere Trinkritual.
Vor hundert Jahren wurde oft Zucker hinzugegeben, denn Farb- und Zusatzstoffe machten den Drink extrembitter. Ein echter Absinth ist aber weder bitter noch grün, sondern weisslich und mild. Und er wirkt wohltuend. Giftig ist er nicht und wahnsinnig macht er auch nicht – aber Achtung: Er ist trotzdem ein Schnaps mit bis zu 70 Prozent Alkohol.
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Sehenswertes
Es lohnt sich auf alle Fälle, den Besuch im Val-de-Travers nicht direkt in einer Destillerie zu beginnen. Denn das Tal hat viele Wanderrouten, die es zu entdecken gibt. Eine der schönsten befindet sich in der Nähe von Noiraigue: der Creux du Van, eine Art Grand Canyon der Schweiz. Im Creux du Van über dem Neuenburgersee präsentiert sich die Natur in einem gigantischen Amphitheater.
Nach genau 725 Höhenmetern Aufstieg steht man mitten in einer Arena der Superlative. Das natürliche Amphitheater mit einem Durchmesser von einem Kilometer ist das Resultat hartnäckiger Erosion durch Wasser und Eis – und ein Paradies für Steinböcke, Murmeltiere, Rehe, Raubvögel und Naturliebhaber. Am Rand dieser «Arena» entlang führt der Weg, auf dem man sich immer in der ersten Reihe fühlt. j3l.ch
Die zweite grosse Attraktion des Tals sind seine Asphaltminen. Zwischen 1711 und 1986 entstand hier ein Stollensystem von 100 Kilometern: Mit dem Asphalt aus Travers wurden Strassen von Paris, London und New York gepflastert. Ein Kilometer der stillgelegten Minen steht heute Besuchern offen, denen als Spezialität in Asphalt gekochter Schinken serviert wird. mines-asphalte.ch
Die 48 Kilometer lange Route de l’Absinthe von Pontarlier im französischen Jura nach Noiraigue in der Schweiz ist sehr zu empfehlen. Brennereien, Wermutfelder, Wermuttrockenspeicher und Orte mit Untergrundvergangenheit weihen in die Geheim-nisse des Absinths ein. Besonderes Highlight: Die «Fontaine des Fees» – an drei Quellwasserbrunnen sind mehr oder weniger gut versteckt Flaschen mit Absinth zu finden. Dieser kann gleich vor Ort konsumiert werden. routedelabsinthe.com
Das ehemalige Gerichtsgebäude von Môtiers beherbergt heute das liebevoll kuratierte Absinthmuseum Maison de l’Absinthe. Ob Absinth in der Kunst, Absinth als Heilmittel, Absinth als wichtiger Wirtschaftszweig des Val-de-Travers, die Kriminalisierung und geheime Produktion des Absinths und vieles mehr: Das interaktive museografische Konzept beleuchtet alle Aspekte dieses magischen Getränks. maison-absinthe.ch
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