Die mächtigen Wände, hohen Felstürme und bizarren Zacken der Dolomiten stehen für viele Menschen sinnbildlich für Südtirol. So gehören der prägnante Gebirgsstock Drei Zinnen und die Seceda im Grödnertal zu den meistfotografierten Sujets der Provinz. Weitere Anziehungspunkte sind der Pragser Wildsee, die Seiser Alm und die Kirche von Ranui tief unter den Geislerspitzen.

Neben diesen touristischen Hotspots punktet Südtirol mit einer Reihe ruhiger Seitentäler, die Norman Libardoni von der Marketingorganisation «IDM Süd–tirol» Coldspots nennt, weil sie nicht überfüllt sind und Entwicklungspotenzial haben. Dazu aber später. Denn die Tour durch das deutschsprachige Italien führt zuerst an die Weinstrasse. Diese führt durch 16 Dörfer, vorbei an modernen und alten Weingütern, die insgesamt über 4000 Hektaren Rebfläche bewirtschaften.

Unter der Sonne Südtirols, die wie an 300 Tagen im Jahr auch an diesem Tag vom Himmel strahlt, gedeihen 20 verschiedene Sorten. Etwas mehr als ein Drittel sind Rotweine, hauptsächlich Vernatsch und Lagrein – zwei autochthone Sorten, deren Heimat also ursprünglich Südtirol ist. Die Provinz ist aber laut Libardoni Italiens grösster Weissweinproduzent. Hier wachsen die meisten bekannten Sorten wie Weissburgunder, Müller-Thurgau, Riesling, Silvaner oder Chardonnay.

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Tramin ist namensgebend für den Gewürztraminer. Die Weinbautradition im Bauerndorf geht ins Mittel-alter zurück. Historisch ist auch der Dorfkern – und der älteste Teil heisst Bethlehem. Vor etwa 100 Jahren übernachteten Fahrende hier in einem Stall, und ausgerechnet in dieser Nacht kam ein Kind zur Welt. «Die Leute sagten, in Tramin gehe es zu und her wie in Bethlehem», erzählt Nathalie Bellutti lachend.

Bio ist noch nicht angekommen

Die junge Frau betreibt hier mit ihrem Mann Georg Fink das Weingut Ansitz Rynnhof. Belluttis Vater war noch Obstbauer. Die wenigen Flaschen Wein, die er produzierte, waren für die Gäste der Ferienwohnungen und für den Eigengebrauch. «Ich habe mich immer mehr für den Weinbau interessiert», sagt Nathalie Bellutti. Der Wechsel zur Winzerei sei logisch gewesen, als die studierte Landwirtin 2015 in den Betrieb einstieg.

Und da sie an der Universität und nach dem Studium über biologischem Pflanzenschutz forschte, war auch die Umstellung auf biologischen Weinbau für sie folgerichtig. Drei Jahre dauerte der Übergang, der vierte Jahrgang war dann Bio-zertifiziert. Auch wenn Nathalie Bellutti sagt, dass Bio anstrengend sei, weil man viel beachten muss und viel nicht darf, bereut hat sie es nie: «Bio ist die Zukunft», ist sie überzeugt.

Ausserdem ist es in Tramin ihr Alleinstellungsmerkmal: Der Rynnhof ist das einzige Bio-Weingut des Dorfes. Ja, bestätigt Libardoni, die Bio-Winzerei sei in Südtirol noch nicht angekommen. Für Bellutti bedeutet dies auch, dass sie hoffen muss, dass die Nachbarn mit Bedacht spritzen. «Um auf Nummer sicher zu gehen, ernten wir die Reben an der Grenze zum konventionellen Anbau getrennt und verkaufen die Trauben.» Unten in der Ebene sind dies dann die roten Sorten Lagrein und Vernatsch, wobei letztere nicht mehr gut laufe.

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Vieles sei Modesache, aber der Gewürztraminer sei schon länger in, sagt Bellutti während des Spaziergangs durch die steilen Hänge hinter dem Hof. Hier wächst Gewürztraminer in bester Qualität: Die Reben bekommen viel Sonne, treiben früh aus und reifen schön. Was man herausschmeckt, wie eine Degustation beweist. Bellutti verkauft ihre Weine direkt ab Hof sowie einigen Restaurants und Hotels in der Region. Sie laufen unter dem Label «Roter Hahn», dem Qualitätssiegel des Südtiroler Bauernbundes. 1999 für Urlaub auf dem Bauernhof mit dem Ziel gegründet, heimische Landwirte und die nachhaltige Entwicklung der bäuerlichen Kultur zu unterstützen, stehen hinter der Marke mittlerweile gut 1700 Betriebe in der ganzen Provinz.

Nicht dazu gehört das Projekt «Kurtatscher Olivenöl». Es hat dennoch mit Nachhaltigkeit zu tun. Fährt man die eng gewundene Strasse oberhalb von Kurtatsch den Berg hinauf, sieht man neben knorrigen Reben immer wieder Olivenbäume. Gepflanzt wurden sie, weil es schön aussieht. Genutzt haben die Baumbesitzer die grünen Früchtchen nicht. Zumindest bis 2009 nicht. Dann rief Otto Pomella dazu auf, die Oliven zu sammeln. «Ich fand, wir sollen die Oliven nutzen, die vorhanden sind.» 17 Bauern machten mit.

Am 2. November brachte der Kurtatscher mit dem Auto 179 Kilogramm Früchte an den Gardasee, wo eine Ölmühle daraus 26 Kilogramm Öl presste. «Danach begannen die Bauern, Olivenbäume zu pflanzen», sagt Pomella. Mittlerweile stehen in der Region 500 Bäume und 170 Landwirte machen mit. Längst reicht ein PKW nicht mehr für den Transport: «2018 hatten wir die Rekordernte von 5300 Kilogramm.»

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Das Öl geht zurück zu den Baumbesitzern. «Wir können es nicht verkaufen, da man dafür die Bäume in ein Register eintragen und andere Auflagen erfüllen müsste», sagt Pomella. Gut zehn Prozent des Öls behält die Kellerei Kurtatsch zur Verkostung zurück – und erntet immer wieder erstaunte Blicke, denn Olivenöl erwarten viele nicht in Südtirol. Schafe dagegen schon, etwa im Villnösser Tal, das berühmt ist für die beeindruckenden Dolomitenfelsen der Geislerspitzen.

Schafe als Werbeträger eines ganzen Tales

Zusammen mit der Kirche St. Johann in Ranui sind sie ein Star auf Instagram – mit allen negativen Auswirkungen, die auch von anderen Hypes bekannt sind. Busweise werden Touristen aus aller Welt herangekarrt, die die Idylle knipsen, posten und schnell dem nächsten Sujet hinterherjagen. Sie hinterlassen Abfall und verstopfen das Tal mit seinen 1600 Einwohnern, ohne jeglichen Kontakt zu den Einheimischen.

Nun will eine Gruppe innovativer Villnösser das Steuer herumreissen. «Slow Food» und «Slow Food Travel» heissen die Stichworte. Werbeträger für das Projekt und das Tal sind weisse Schafe mit dunklen Flecken um die Augen, die sie aussehen lassen, als ob sie Sonnenbrillen tragen würden: Das Villnösser Brillenschaf entstand im 18. Jahrhundert, als man im Tal heimische Tiere mit Bergamaskerschafen und Paduaner Seidenschafen kreuzte.

Die optischen Cousins des Bündner Spiegelschafes waren lange eine geschätzte Wollrasse, leistungsfähigere Tiere drängten sie aber immer mehr zurück. «Ich wusste gar nicht, dass es eine eigene Rasse ist», erklärt Oskar Messner, «es waren einfach die Schafe im Tal.» Der Koch und Besitzer des Restaurants «Pitzock» ist der Initiator des Brillenschaf-Projekts. «Ich wollte mitlokalen Produkten arbeiten und kam auf die Schafe.»

2004 habe ihn ein Landwirt gefragt, ob er ein Lamm brauche. Drei Wochen später sei der Mann mit seinem Fiat Panda vorgefahren und habe ihm ein gehäutetes Tier gebracht, erinnert sich Messner schmunzelnd. Zu Ostern habe er daraus einen gekochten und geräucherten Schinken gemacht. «Die Gäste waren begeistert und ich dachte, dass das Produkt Potenzial haben könnte.»

Fleisch und Wolle nutzen

Hatte es: Als Messner und Kurt Niederstätter, der im Tal einen Dorfladen betreibt, 2007 mit dem Projekt Furchetta begannen, gab es noch 300 Mutterschafe. Mittlerweile hat sich die Zahl der Auen verdoppelt, für den ganzen Dolomitenraum weist das Herdebuch 3000 Brillenschafe aus. «Mit Furchetta garantieren wir die Abnahme und den Preis, sodass die Bauern kalkulieren können», umreisst Messner das Erfolgsrezept.

Einer der 50 Höfe, die bei Furchetta mitmachen und mit 120 Tieren der grösste Brillenschaf-Betrieb, ist der Drockerhof, wo einige Lämmer hin und her springen, sodass die Schlappohren auf und ab hüpfen. Zwischendurch trinken sie bei ihren Müttern, während andere Auen und ihr Nachwuchs sich sonnen. Im Laufstall linst ein Bock ins Abteil nebenan, wo eine Rarität steht: Schwarze Brillenschafe, von denen es gemäss Zuchtwart Günther Pernthaler noch etwa 80 Tiere gibt.

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Wichtiger Teil des Furchetta-Konzepts ist es, Fleisch und Wolle zu nutzen. Aus der Wolle entstehen Finken und gehäkelte Mützen. Die Bozener Outdoor-Marke Salewa füttert damit ihre Jacken. Aus den Lämmern, die mit sechs Monaten zum Metzger kommen, zaubert Messner Würste, Schinken, Ragout oder eine butterzarte Lammstelze. Die Cannelloni dagegen sind mit «Geisler Rind» gefüllt. Die treibende Kraft dieses Projekts mit Grauvieh ist Pernthaler. «Damit wollen wir Nebenerwerbsbauern das Überleben ermöglichen», erklärt Messner. Furchetta nimmt den Besitzern die ganzen Tiere ab und macht daraus lokale Spezialitäten wie das dem Bündnerfleisch ähnliche Rindshenkele.

Die Brillenschaf-Produkte haben die Anerkennung als «Slow Food Presidio». Diese bekommen kleine Hersteller traditioneller Produkte. Das ganze Villnösser Tal ist seit Mai als erste Destination in Südtirol eine «Slow Food Travel»-Region». Im Fokus dieser Initiative stehen Orte und Gegenden in touristischen Nebentälern. So waren Lesach-, Gail- und Gitschtal sowie der Weissensee im österreichischen Bundesland Kärnten die weltweit erste «Slow Food Travel»- Destination, es folgten weitere Kärntner Regionen, eine Destination im Piemont und mehrere Täler im Wallis.

Gut 25 Villnösser Landwirte, Hotels und Restaurants machen mit und planen unter anderem Themenwanderungen wie «Auf den Spuren des Brillenschafes». «Wir wollen die Menschen dort hinführen, wo die Lebensmittel herkommen», erklärt Messner. Mit Bedacht und allen Sinnen zu reisen, ist die Idee dahinter. Dies geht nicht ohne Einheimische. «Qualitätstourismus besteht nur dann, wenn es den Einheimischen dabei gut geht und sie die Gäste gut aufnehmen.»

Beschaulich-urige Seitentäler

Diesen Satz Messners würde auch Giovanni Mischi auf der anderen Seite der Geislerspitzen unterschreiben. Die Fahrt zu ihm führt ins Gadertal oder Val Badia, wie es auf Ladinisch heisst. Wie im berühmten Gröden gehören die Einheimischen hier zur kleinen Minderheit Südtirols, die rätoromanisch spricht. Nicht einmal 0,7 Prozent der 532 000 Südtirolerinnen und Südtiroler haben Ladinisch als Muttersprache.

Mischi ist Dozent für Ladinische Sprache an der Universität Bozen, lebt aber noch immer in seinem Elternhaus am Ende eines Seitentals des Val Badia hoch über Campill-Lungiarü. Beschaulich und urig ist es hier. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, auch wenn die Bauernhöfe wie die Pension «Odles» sanft und mit viel Liebe fürs Detail renoviert sind und den Gästen modernen Komfort bieten.

Seit 2018 gehört Lungiarü zum internationalen Netzwerk der Bergsteigerdörfer. Die mitmachenden Orte liegen alle abseits vom Massentourismus, haben weder Protzbauten noch grosse Hotels und keine Ski- und Sessellifte. Geht es nach Mischi, sollte sich daran nicht allzu viel ändern: «Wir wollen eine Alternative sein für andere Täler und dabei glaubwürdig bleiben.» Er sei nicht gegen Wachstum per se, «aber nur langsam und nachhaltig». Das Campilltal dürfe keinesfalls so überborden wie die touristischen Hochburgen Cortina oder Gröden. Wer nach Lungiarü kommt, sucht Ruhe, geht wandern und bergsteigen oder macht Skitouren. Schneeschuhlaufen ist auch immer mehr im Kommen. Will man sich die Latten oder das Board anschnallen, muss man dafür zu den bekannten Weltcup-Orten Alta Badia oder Kronplatz fahren.

Die Spezialität Graukäse

Direkt am Fusse des Skigebiets Kronplatz liegt St. Vigil in Enneberg. Hier befindet sich der 2021 eröffnete Eulenpark. 30 Arten sind zu sehen – aber nur, wenn man ruhig und ohne herumzuschreien zu den Käfigen hingeht. Zu sehen sind auch einheimische, meist stark gefährdete Arten wie der Uhu, die Schleiereule oder der Habichts- und Waldkauz. Geduldig vermittelt Eulenvater Mario Gross und Klein viel Wissenswertes rund um die nächtlichen Jäger und träumt davon, an einem Wiederansiedelungsprogramm teilzunehmen.

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Vögel zu beobachten, macht hungrig. Die Degustation des Ahrntaler Graukäses, eine lokale Spezialität, findet auf dem Moarhof von Roland und Claudia Eder statt. Er sagt «die Italiener», wenn er seine Landsleute meint, und spricht derart kehliges Südtirolerisch, dass wir witzeln, für ihn bräuchte es Untertitel. Sie ist Österreicherin und produziert den Käse nach dem Rezept der Schwiegereltern.

Aus dem Rahm macht Claudia Eder Butter, und die Magermilch wird zu Graukäse, der deshalb nur ein Prozent Fett und keine Laktose enthält. Sie stellt drei Varianten her: Der wenig gepresste «Speckige» ist aussen und innen weich und war unser Favorit. Der festgedrückte «Topfige» ist aussen hart und innen weiss sowie bröselig. Er schmeckte uns ebenso zu säuerlich wie der «Ziggolan», den Eder so lange knetet, bis er kegelförmig ist. Die ursprünglichen Produkte passen perfekt zu Labels wie «Roter Hahn» und «Slow Food».

Zu Gast bei alten Nutztierrassen

Auch Georg Steinhauser arbeitet damit. Der Koch und seine Frau Maria haben mit ihren Appartements im Hochzirm 2021 eine moderne Version von «Urlaub auf dem Bauernhof» eröffnet. «Wir sind kein Hotel», betont Maria Steinhauser. «Ferien auf dem Bauernhof gibt es alle paar Höfe lang, weshalb wir uns von anderen abheben müssen und wollen, um Erfolg zu haben.»

Tatsächlich bieten die Studios viel Luxus: kleine Küche mit Spülmaschine, eine bequeme Sitzecke, ein geräumiges Bad und – last but not least – eine grosse Terrasse mit eigener Sauna und spektakulärem Blick über das Ahrntal. Auch das Material in den Zimmern und im Restaurant ist nicht alltäglich: Ein Schreiner verarbeitete alte, abgerissene Bauernstuben zu Wandverkleidungen, Tischen, Stühlen und vielem mehr.

Speziell sind auch die Nutztiere der Steinhausers: Draussen tummeln sich Hochlandrinder und Pustertaler Sprinzen, derweil Brillenschafe drinnen liegen und Wollschweine weiter hinten im Steilen wühlen und suhlen. Hochzirm ist ein Arche-Hof, ein Label, das nur bekommt, wer seltene Nutztierrassen hält. «Ich will die Tiere so viel wie möglich draussen haben», sagt Georg Steinhauser. «Dies geht mit diesen Rassen am besten, da sie sehr unkompliziert sind.» Gleichzeitig wolle er anderen Landwirten zeigen, dass es auch mit diesen Schweinen, Schafen und Rindern wirtschaftlich gehe. Sie wachsen zwar langsamer, aber ihr Fleisch sei einfach köstlich. Seine Kreationen sind ein Fest für Gaumen und Augen. Und ein gelungener Abschluss der Tour durch das kulinarische Südtirol.

 

Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 09/2022 vom 5. Mai 2022.