Unbekannte Welt im Blütenstaub
Pollen können mehr als nur Allergiker nerven
Pollen ermöglichen Pflanzen eine Fortpflanzung mit genetischem Austausch und bringen Allergiker zum Niesen. Die Körner sind aber auch vielfältige Kunstwerke und wertvolle Informationsquellen.Eine Eigenschaft, die sich Forschende zu Nutzen machen.
Nach Angaben des Allergiezentrums Schweiz leiden rund zwanzig Prozent der Schweizerinnen und Schweizer unter einer Pollenallergie. Ihr Immunsystem reagiert auf eigentlich harmloses Eiweiss in bestimmten Pollenarten und löst eine allergische Reaktion mit Symptomen wie Niesen, juckenden Augen oder Schnupfen aus. Siebzig Prozent der Allergiker reagieren auf die Pollen von Gräsern, häufig sind auch jene von Hasel oder Birke der Auslöser. Die eindrücklichen Staubwolken, die bei einem Windstoss von Tannen und anderen Nadelbäumen aufsteigen, reizen hingegen die wenigsten.
Mit Pollen verbinden die meisten Menschen wenig Gutes. Man denkt an schmutzige Fensterscheiben, tränende Augen und eine laufende Nase. Was sich aber als gelbes Pulver auf Simse oder Autos legt und bei Allergikern Heuschnupfen auslöst, ist unter dem Mikroskop ein wahres Kunstwerk. Denn die Pollenkörner sind nicht einfach rund, sondern zeigen eine Vielfalt von Formen und Oberflächenstrukturen. Aber sie sind nicht nur schön,sondern auch von grossem Wert für die Wissenschaft.
Bei Pollen handelt es sich um männliche Keimzellen. Damit sie ihre Aufgabe – nämlich die Befruchtung einer Blüte – erfüllen können, müssen sie heil ankommen. Die äusserste Schicht des Pollenkorns besteht aus dem sehr widerstandsfähigen Bio-Polymer Sporopollenin und schützt das wertvolle Erbgut so vor UV-Strahlung oder bakteriellem Abbau. Können Mikroben und Sauerstoff die Pollenkörner nicht erreichen, bleiben diese über Jahrtausende erhalten.
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Das machen sich Forschende zunutze, um die Vegetation und das Klima früherer Erdzeitalter zu untersuchen. Mittels meterlanger Bohrkerne, die aus den Sedimenten am Grund von Seen gewonnen werden, öffnet sich ihnen quasi ein Fenster in die Vergangenheit. Jedes Jahr lagert sich dort der Blütenstaub aus der Umgebung ab und bildet Schicht für Schicht ein Archiv, das dank des Wassers darüber kaum durcheinandergebracht wird. Die sogenannten Warven, wie sie in Gletscherseen entstehen, bilden ein Jahr ab und ähneln den Jahrringen eines Baums. Winter zeigen sich darin als helle Streifen, da sich in den kalten Monaten vor allem erodiertes Material wie Steinmehl von unter dem Gletscher ablagert. Die Sommerschicht hingegen ist dunkler, gefärbt von organischem Material wie Algen.
Der Fingerabdruck des Lebens
Willy Tinner von der Universität Bern ist Paläoökologe. Er beschäftigt sich mit der Ökologie früherer Zeitalter und nutzt dazu Sedimentkerne, in denen sich der «Fingerabdruck des Lebens» finden lasse. Unter dem Mikroskop zählen Tinner und sein Team am Institut für Pflanzenwissenschaften die Pollen und Sporen unterschiedlicher Pflanzen- und Pilzarten in jeder Schicht aus. Daraus werden Diagramme erstellt, die in Abhängigkeit der Tiefe im Sediment – und damit der Zeit – die Pollenmengen zeigen. Eindrücklich zeigt sich so etwa im Lobsigensee in der Berner Gemeinde Seedorf, wie sich die Vegetation nach der Eiszeit von der Steppe zum Nadel- und später zum Laubwald gewandelt hat.
«Dank Pollen können wir simulieren, wie die Wälder in Zukunft aussehen könnten.»
Davon, was wann im Umkreis eines Sees gewachsen ist und somit seinen Pollen am Grund hinterlassen hat, kann man auch auf das herrschende Klima und die Anwesenheit von Menschen schliessen. Blütenstaub von krautigen Pflanzen hat sich im Lobsigensee erstmals vor ungefähr 5000 Jahren abgelagert. Das entspricht im Schlick des Sees etwa einer Tiefe von fünf Metern. «Damals gab es in der Nähe ein Dorf und es war die Zeit der neolithischen Revolution», erklärt Willy Tinner. Die Menschen wurden sesshaft und schlugen Lichtungen in den Wald, auf denen sich Kräuter und Gräser ausbreiteten.
Es finden sich im Lobsigensee rund um die Bronzezeit (vor rund 4000 bis 3000 Jahren) und besonders seit der Eisenzeit (vor rund 2500 Jahren) immer weniger Pollen von Bäumen. Dafür taucht immer häufiger Getreide im Pollendiagramm auf. «Das zeigt, dass Menschen den Wald stellenweise gerodet haben, um Äcker anzulegen», so die Interpretation des Paläoökologen.
Superfood für Bienenlarven
Zu Beginn der Brutzeit im Bienenstock, also im Vorfrühling ab Mitte Februar, dient Blütenstaub den Larven als proteinhaltige, vitamin- und nährstoffreiche Grundnahrung. Damit dasVolk gesund bleibt, ist es auf frühblühende Pflanzen mit grosser Pollenproduktion angewiesen, wie zum Beispiel Weiden, Hasel oder Schneeglöckchen. Die Bienen sammeln den Blütenstaub, befeuchten ihn mit Nektar oder Honigtau aus ihrem Magen und reichern ihn dabei mit körpereigenen Enzymen an. Wer Bienen helfen möchte, sollte pollen- und nektarreiche Gewächse in seinem Gartenoder auf dem Balkon ziehen. So können sichdie Insekten bedienen, sobald sie nach dem Winter bei Temperaturen um zehn Grad zum ersten Mal ausfliegen.
Auszählen allein reicht nicht
Pollenkörner sind nicht nur in See-Sedimenten zu finden, sondern auch im Honig: Zusammen mit dem Nektar wird der Blütenstaub von den Bienen in ihren Stock getragen und landet am Ende im Honigglas. Dort ermöglicht es die Vielfalt der Pollenkörner – zusammen mit anderen Analysen –, die geografische Herkunft des süssen Lebensmittels ebenso zu bestimmen wie die dafür von den Insekten angeflogenen Blütenpflanzen. Besonders wichtig ist das etwa für Sortenhonige, die überwiegend mit dem Nektar einer bestimmten Pflanzenart produziert werden. In der Schweiz einigermassen bekannt ist Kastanienhonig mit seinem eigenwilligen Geschmack. Es gibt aber auch beispielsweise Alpenrosen-, Linden- oder intensiv gelben Löwenzahnhonig.
Die Bestimmung der geografischen und botanischen Herkunft von Honig ist eine Spezialität des Biologischen Instituts für Pollenanalyse (BIP) in Kehrsatz BE. Mit dem reinen Auszählen der Pollen je Pflanzenart oder -gruppe sei es allerdings nicht getan, wie das BIP ausführt. So fange etwa die Kastanie in ihrem Nektargrosse Mengen ihrer eigenen kleinen Pollenkörner ein, von denen sie aber ohnehin viele besitzt. Entsprechend müssen viele Kastanienpollen nicht bedeuten, dass die Bienen vor allem den Nektar dieser Bäume gesammelt haben. Hinzukommt die Möglichkeit, dass Blütenstaub nachträglich in den Honig gelangt, etwa vom Haarkleid einer Biene oder beim Schleudern durch den Imker.
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Auch bei Pollendiagrammen für die Paläoökologie müssen diverse Faktoren miteinbezogen werden. Windbestäubte Pflanzen produzieren generell grosse Mengen Pollen und die Körner sind bisweilen mit Luftkissen ausgestattet, damit sie besonders gut fliegen. Arten, die auf Tiere zur Verbreitung ihrer Pollen angewiesen sind, produzieren hingegen weniger Pollenkörner, die dafür aber mit Widerhaken ausgestattet sein können. Windbestäubte Nadelbäume, aber auch Hasel oder Erle hinterlassen mehr Blütenstaub in Sedimenten alsLinde und Efeu, die von Insekten bestäubt werden. «Es gibt entsprechende Korrekturfaktoren. Ausserdem muss man sich überlegen, von wo beziehungsweise aus welcher Distanz zum See die Pollen gekommen sind», schildert Willy Tinner.
Von der Vergangenheit in die Zukunft schauen
Neben der Rekonstruktion vergangener Vegetationen dient die Pollenanalyse auch zur Erstellung von Zukunftsszenarien. Sie ermöglicht es, die Ansprüche einer Art an ihre Umwelt und ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Pflanzen abzuschätzen. «Wir können Modelle, die zum Beispiel unsere zukünftigen Schweizer Wälder im Einfluss des Klimawandels simulieren, mit paläoökologischen Daten überprüfen», so Tinner. «Wenn sie simulieren, was wir in den See-Sedimenten sehen, sind sie realistisch.» Konkret sind die Modelle dann in der Lage, die Ansprüche einer Pflanzenart richtig zu berücksichtigen und damit ihre Reaktion auf ein verändertes Klima vorauszusagen. Nützlich ist solches Wissen etwa bei der Suche nach zukunftsfähigen Baum-arten, die sich gut für die Aufforstung eignen. Schliesslich sollte der Wald auch in ein paar Jahrzehnten noch stehen, weshalb in der Forstwirtschaft umso mehr langfristig gedacht werden muss.
Es lässt sich festhalten: Blütenstaub hat einige weniger bekannte Eigenschaften und Funktionen, die ihn über die Befruchtung von Pflanzen hinaus wertvoll machen. Das mag beim Fensterputzen oder angesichts von Heuschnupfen zwar nicht jeden trösten, ist aber zumindest gut zu wissen.
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