Das südamerikanische Riesenland Brasilien wird unweigerlich mit tropischem Regenwald in Verbindung gebracht. Im Schatten dieses Ökosystems liegen zwei ineinander übergehende Vegetationsformen, die Caatinga und der Cerrado. Gerade der Cerrado wird durch landwirtschaftliche Produktion vernichtet. Er ist kaum geschützt. Beim Cerrado (sprich Cehado) handelt es sich um eine offene Baumsavanne, die ungefähr zwei Millionen Quadratkilometer Fläche umfasst. Sie läuft in einen trockenen Dornenwald, die Caatinga, über, der sich im Nordosten Brasiliens auf über 700 000 Quadratkilometern Fläche ausdehnt. Im Vergleich dazu: Der tropische Regenwald erstreckt sich auf einer Fläche von etwa dreieinhalb Millionen Quadratkilometern.

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Brasilienreisende halten sich an der Küste auf, besuchen den amazonischen Regenwald, meist auch das Überschwemmungsgebiet des Pantanal. Die Caatinga im Nordosten bleibt aber nicht nur auf der touristischen Landkarte ein weisser Fleck. Bis heute handelt es sich um eine ärmliche, politisch vernachlässigte Region. Einst brodelte es dort in der Bevölkerung um die Stadt Canudos sogar so sehr, dass Menschen während der blutigen Niederschlagung eines Aufstandes durch die brasilianische Armee Ende des 19. Jahrhunderts Zuflucht in Felshöhlen fanden. Felshöhlen, die von einem legendären Ara als Brutstätte bis heute benutzt werden.

Gellende Schreie in der Schlucht

Die bronzene Statue glitzert in der nachmittäglichen Sonne an einer Kreuzung in der brasilianischen Stadt Euclides da Cunha im Bundesstaat Bahia. Kilma Manso manövriert ihr geländegängiges Fahrzeug daran vorbei, weist mit dem Kopf auf das Bildnis und erklärt: «Das ist Euclides da Cunha, nach dem die Stadt benannt ist.» Einige Stunden später und etwa 90 Kilometer nördlich in der Nähe von Canudos sitzt Manso zusammen mit einem älteren Mann auf einer Abbruchkante eines riesigen rötlichen Felsens und blickt in Richtung der untergehenden Sonne. Leiser, warmer Wind säuselt über die Krete, dürres Gras wispert. Die Dozentin für Agronomie und Biologie zeigt auf Höhlen in den Felswänden des Kessels und sagt: «Hier haben sich die Menschen während des Angriffs der brasilianischen Armee versteckt.» Euclides da Cunha habe als Reporter über diesen Krieg berichtet und die Situation im Sertão, im Hinterland, gut beschrieben. Die Menschen in dieser ärmlichen Region hätten sich gegen Vorschriften der Zentralregierung gewehrt – bis sie dann schliesslich im grossen Krieg geschlagen wurden.

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Plötzlich gellen helle Schreie durch die Schlucht. Kilma Manso und ihr Begleiter zucken zusammen, greifen nach ihren Feldstechern und lächeln. «Sie kommen», raunt die Umweltschützerin. Beleuchtet von den letzten Sonnenstrahlen fliegen Lear-Aras den rötlichen Felsen der Schlucht entlang. Paare lösen sich aus der Gruppe und landen auf Felsvorsprüngen, trippeln auf dem rötlichen Sandstein herum, einige verschwinden gar im Innern. Der Beobachter neben Kilma Manso blickt verklärt. Er heisst Dorivaldo Alwis. Ihn verbindet viel mit diesen Papageien. «Es war eine Sensation, als der deutsche Ornithologe Helmut Sick diesen Ara am 10. Januar 1979 nach einer fast 25-jährigen Suche hier im Raso da Catarina fand», raunt er. Er sei damals 15-jährig gewesen, sein Vater Eliseu Perreira Alwis sei mit Sick hier im Gebiet unterwegs gewesen.

Vorher wusste man vom Lear-Ara durch einzelne Exemplare, die zusammen mit Hyazinth-Aras in den Handel gelangten, doch niemand konnte sagen, wo diese stahlblauen Aras mit weisslich-gelber, mondförmiger Wachshaut um die Schnabelgegend herkamen. Kaum ein Fremder wagte sich ins Gebiet der Caatinga vor, bis Sick dieses Geheimnis lüftete. Die Menschen der Region aber kannten die Lear-Aras seit jeher. Es sei zu Zeiten, als sein damals junger Vater durch das Gebiet streifte, normal gewesen, dass man die Vögel auch bejagt und gegessen habe, erzählt Dorivaldo Alwis. Man habe jede Gelegenheit genutzt, zu Nahrung zu kommen, denn die Natur hier sei unbarmherzig. Monate-, ja manchmal jahrelang regnet es kaum. Caatinga bedeutet in der Tupi-Sprache «weisser Wald» und deutet auf die oft weissliche Rinde der Sträucher hin. Die Tupi waren eine vorkoloniale Ethnie, die in Stämme aufgeteilt über weite Teile des Landes lebten.

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Die Sonne ist bereits untergegangen, diesiges Licht verschluckt die zerklüftete Landschaft, als Blaustirn-amazonen mit gellenden Schreien den Horizont überfliegen. Papageien sind Höhlenbrüter, doch in der Caatinga wachsen keine grossen Bäume mit Höhlen in den Stämmen. Darum nisten sie hier in Felshöhlen.

Wie ursprünglich die Caatinga ist, zeigt sich anderntags ausserhalb des Dorfes Pau in der Gegend von Canudos, als zwei Reiter mit von der Sonne gegerbten Gesichtern hoch zu Pferd aus der Dornenvegetation brechen. Die Pferde tragen lederne Schürzen, die Männer ebensolche Bein- und Brustkleider sowie Hüte. Das schützt sie vor den dornigen Zweigen. Sie gehören zu den Hartgesottenen, die in der Caatinga Vieh- und Feldwirtschaft betreiben. Heute würden viele jüngere Menschen aus diesem Gebiet in grössere Städte abwandern, sagt Kilma Manso. Sie kennt die Bevölkerung bestens. Die engagierte Frau aus Boa Vista ist unterwegs zu Bauern und eruiert den Schaden, den Lear-Aras auf ihren Feldern angerichtet haben. Sie entschädigt die Landleute im Rahmen eines Programms zum Schutz des Aras. Wenn der Regen ausbleibt und nichts als die kärgliche Maisernte bleibt, sitzt der Hunger mit am Tisch der armen Campesino-Familien. Verständlich, dass sie die Mais fressenden Lear-Aras als Feinde betrachten. Die stahlblauen Schreier ernährten sich ursprünglich von Palmnüssen, doch weichen sie heute gerne auf die leicht zugänglichen Maiskolben aus.

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Prägend im Gebiet sind die Licuri-Palmen. Dort, wo tief unten im Boden Wasser vorhanden ist, bilden sie richtige Haine. «Die Nüsse dieser Palmen gehören allen», streicht Kilma Manso heraus. Sie würden von den Bewohnern gesammelt, doch mit Vorliebe auch von den Lear-Aras geknackt. Inmitten der Caatinga liegt auch die Concordia-Farm in der Nähe von Petrolina. Rutenkakteen ranken über Felsen, Opuntien und Mimosenbäume wachsen auf sandigem Grund, die Kakteen der Art Pilosocereus tuberculatus recken ihre Triebe wie dürre, mahnende Finger gegen den blauen Himmel. Immer wieder durchziehen sandige Einschnitte die Landschaft, Hinweise auf reissende Wassermassen, wenn es denn alle paar Jahre mal heftig regnet. Hier wurden 1987 die letzten beiden Spix-Aras weggefangen. Die «International Union for Conservation of Nature», eine internationale Naturschutzorganisation, erklärte den Kleinara 2019, 200 Jahre nach seiner Entdeckung durch den Deutschen Johann Baptist von Spix, als ausgestorben. Seit dem 11. Juni 2022 fliegen wieder Angehörige dieser Art in der Caatinga. Sie wurden in einem gross angelegten Zuchtprogramm unter Menschenobhut vermehrt und wieder in die Natur integriert.

Unter Mähnenwolf und Hyazinth-Aras

Der Rio São Francisco bei Petrolina führt als einziger grosser Fluss auch im heissen und trockenen Südwinter Wasser. Überquert man ihn und reist Hunderte von Kilometern weiter in westlicher Richtung, führt der Weg in den Bundesstaat Piauí. Die Vegetationsform ändert sich und geht langsam in eine grünere Savannenlandschaft über, den Cerrado. Beim Dorf São Gonçalo do Gurguéia im Südosten von Piauí wird sie beispielsweise von speziellen Palmenansammlungen mit Bachlauf und Sumpf durchzogen.

Die Vielfalt an Vegetationsformen, die teilweise den Cerrado durchzieht, macht den Lebensraum für unterschiedliche Tierarten attraktiv. Arten, die eher Feuchtbiotope bevorzugen, dringen aus den Galeriewäldern entlang den Flüssen und Bachläufen in den Cerrado vor, verbreiten dadurch Samen und bestäuben Blüten. Dort treffen sie mit Bewohnern trockener Terrains zusammen.

Bäume des Cerrado haben eine borkige Rinde und wachsen krüppelig. Die meisten Baumarten sind immergrün, grosse, harte Blätter sind häufig. Direkt zum Sandboden heraus schauen die Schöpfe der zwei Palmengattungen Syagrus und Attalea. Der Stamm ist im Erdreich vergraben. Die dicke Rinde der Sträucher und die im Erdreich verborgenen Palmenstämme seien ein Schutz vor Feuersbrünsten, erklärt Lourival Lima, mit Dächlikappe und im Wind flatterndem Hemd nahe des Dorfs São Gonçalo do Gurguéia. Der mittelalterliche Bauer tuckert mit seinem alten, knatternden Kleinlastwagen durch den besonderen Wald. Er sagt: «Die Böden hier sind sehr nährstoffarm und sauer.» Das sei der Grund für den kümmerlichen Wuchs. Wasser in der Tiefe sei genug vorhanden. Die Böden sind durch Verwitterung aus Granit und Sandsteinen entstanden. Aufgeschreckt vom Motor rennt eine Rotfussseriema der Piste entlang, bis der langbeinige Vogel mit auffallend abstehenden Federn bei der Schnabelgegend im Dickicht verschwindet. Kanincheneulen sitzen wie ausgestopft auf einem Sandhügel vor ihren Höhlen.

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Die roten Felsen der Tafelberge wirken im Abendlicht wie riesige Flammen. Lourival Lima hat den Motor längst abgestellt, tritt vor einen alten Stall und blickt nachdenklich der Felswand empor. In jungen Jahren hat er da in waghalsigen Aktionen junge Hyazinth-Aras den Höhlen entnommen. Er erinnert sich: «Wir waren arm, der Verkauf der Jungvögel hat uns über die Runden geholfen.» Das ist lange her. Längst ist Lima nicht mehr Fänger, sondern Touristenführer, wenn denn mal jemand kommt.

Anderntags führt er durch einen schmalen Gang aus Schilf, der in ein grösseres Versteck aus Zweigen und Brettern mündet. Im diesigen Licht der Schilfhütte hört man von ausserhalb Knacklaute sowie kurze, heisere Schreie. Beim Blick durch die Scharte verschlägt es einem die Sprache. Gut 50 Hyazinth-Aras knacken Nüsse. Lima und seine Kollegen haben sie vorgängig ausgelegt. Die Hyazinth-Aras als grösste aller Papageien sind spektakulär. Sie sind nicht die einzigen Grosspapageien im Gebiet. Aus einer Krone einer Buriti-Palme fliegt ein Paar Dunkelrote Aras krächzend davon. Auch sie brüten in Felshöhlen.

Plötzlich leuchtet etwas Gelb-Oranges auf einem exponierten Ast eines spärlich mit Blättern versehenen Baums. Ein Riesentukan äugt über den Cerrado und hält den Kopf schräg. Ihm entgeht der Königsgeier nicht, der hoch am Himmel kreist. Lourival Lima erzählt derweil vom Mähnenwolf, der selten sei, aber im Gebiet umherstreife. Die Langbeinigen sind nur entfernt mit Wölfen verwandt. Sie gelten als grösste Wildhunde Südamerikas. Im Passgang schritten sie meist einzeln durch die Savannenlandschaften des Cerrado. Das Gürteltier rollt sich vorsichtshalber zusammen, sodass es durch seinen Panzer geschützt ist, wenn der einsame Sonderling an ihm schnuppert. Der Tamandua oder Kleine Ameisenbär hingegen blickt lediglich verschlafen aus sicherer Höhe aus dem Geäst eines Baums. Im Gegensatz zum Grossen Ameisenbären klettert das braun-weisslich gefärbte Tier auch auf Bäume.

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Gefährdeter Cerrado

Lourival Lima sitzt auf einer Holzbank vor seiner Hütte und schaut zu, wie die Sonne am Horizont verschwindet. Anderntags wird er auf seinem Pferd durch den Cerrado reiten, um seine Kühe zu kontrollieren, die frei im Gelände herumstreifen. Hier im Süden des Bundesstaates Piauí ist der Cerrado noch ursprünglich, Lima und seine Leute nutzen ihn extensiv. Gerade um die Hauptstadt Brasilia, wo die gleiche Vegetationsform dominiert, wurde er aber grossteils zerstört, um Eukalyptus-, Mais- und Sojaplantagen anzulegen. Um Brasilia ist die Gegend meist flach und darum leicht zugänglich. Obwohl über 10 000 Gefässpflanzen, etwa 200 Säugetier-, 840 Vogel- und 290 Amphibien- und Reptilienarten bestimmt wurden, fristet der Cerrado auch in der Forschung ein stiefmütterliches Dasein.

Während die aus dem Boden gestampfte politische Hauptstadt Brasilia glitzert und Männer mit akkuraten Frisuren zwischen modernster Architektur herum-stelzen, leben die Bauernfamilien in den Weiten der Landschaft mit flammenden Felsen und funkelnden Hyazinth-Aras in einfachsten Verhältnissen und gehen ihrem Tagwerk nach. So wie Lourival Lima, der mit wehendem Hemd durch das Gebüsch reitet.

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