Tiergestützte Therapie
Professorin Karin Hediger: «Tieren ist es egal, wie wir aussehen»
Prof. Karin Hediger, die eine Forschungsgruppe für tiergestützte Therapie leitet und das spezielle Verhältnis von Menschen und Tieren im therapeutischen Kontext seit vielen Jahren ergründet, ist überzeugt: Tiere sind oft echte Brückenbauer und bringen Prozesse ins Rollen, die verblüffen.
Frau Hediger, woher rührt Ihr Interesse für Tiere?
Das geht sehr weit zurück: Ich bin mit Meerschweinchen, Hamstern und Hunden aufgewachsen und mir wurde früh klar, dass Tiere viel in Bewegung bringen. In der Primarschule war in meiner Klasse ein Flüchtlingskind, das ich manchmal mit nach Hause genommen habe. Ich merkte rasch: Dank unserer Haustiere gelang es, sich auch ohne Sprache zu verständigen.
Was kann tiergestützte Therapie, was andere Therapieformen nicht zu leisten vermögen?
Es gibt Leute, die in einer klassischen Therapie unwohl sind: Dieses Setting, bei dem man sich gegenübersitzt und sich miteinander in einem Zimmer unterhält, entspricht einigen Menschen gar nicht. Besonders Personen, die Mühe haben, anderen zu vertrauen und Beziehungen aufzubauen, oder die sich wegen einer Erkrankung oder fehlenden Sprachkenntnissen verbal kaum äussern können, tun sich schwer damit. Hier schafft die tiergestützte Therapie neue Möglichkeiten.
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Das Tier als Vis-à-vis: Was bedeutet das?
Tiere werten nicht wie Menschen. Ihnen ist es egal, ob wir erfolgreich sind oder wie wir aussehen. Sie sind nur am Moment interessiert, wenn wir mit ihnen in Kontakt treten. Vielen Menschen, besonders solchen mit von Mitmenschen verursachten Traumata, fällt es einfacher, sich auf ein Tier als auf ein menschliches Gegenüber einzulassen.
Wie gut ist dieser Ansatz wissenschaftlich belegt?
Es handelt sich um eine noch junge Disziplin in der Forschung. Dennoch: In gewissen Bereichen wie beispielsweise bei Autismus-Spektrum- oder Traumafolgestörung zeigen mehrere Studien auf, dass es sich um eine effiziente, wirksame Therapie handelt. Doch es braucht noch mehr Forschung auf diesem Gebiet; wir müssen noch genauer in Erfahrung bringen, wer von diesem Ansatz am meisten profitiert und wie diese Interventionen wirken.
Bei welchen psychiatrischen Beschwerdebildern ist tiergestützte Therapie eine gute Option?
Sie kann fast immer angewendet werden – unabhängig von der jeweiligen Diagnose. Entscheidend ist die Motivation der Betroffenen wie auch die Frage, ob jemand sich mit dem klassischen Therapie-Setting schwertut.
Gibt es Momente, die Ihnen im Zusammenhang mit tiergestützten Interventionen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Sehr viele sogar. Beispielsweise in der Neurorehabilitation. Ich erinnere mich an einen Patienten mit schweren Einschränkungen. Das erste Wort, das er wieder sagen konnte, war der Name des Therapiehundes auf der Station. Oder ein Mädchen, das in der Therapie kein Wort über die Lippen brachte und erst in der Umgebung von Hühnern zu kommunizieren und sich zu öffnen begann.
Hunde sind Therapietiere par excellence. Wieso?
Sie verfügen über ein grosses Talent, Menschen zu lesen und ihre Emotionen zu erkennen. Auch gehen sie sehr enge Beziehungen zu uns ein und lassen sich – anders als Pferde oder Hühner – gut an den unterschiedlichsten Orten wie Spitälern oder Kindergärten einsetzen.
Welche Tierarten und Rassen werden selten oder nie eingesetzt?
Wildtiere eignen sich nicht und auch bei den Haustieren gibt es gewisse Vorbehalte: Ein Herdenschutzhund oder Tiere, die einen starken Drang zum Verteidigen haben, können im Therapiekontext suboptimal sein.
Gegenfrage: Welche Tiere eignen sich ganz besonders für solche Interventionen?
Infrage kommt ein Grossteil der domestizierten, tagaktiven Tiere. Aber ganz wichtig: Nur weil eine Tierart geeignet scheint, ist es nicht automatisch jedes Individuum dieser Art. Entscheidend sind der Charakter und die Prägung. Das ist nicht anders als bei Menschen, von denen einige am liebsten im Einzelbüro sitzen, während andere erst in sozialen Berufen aufblühen. Genaues Beobachten lohnt sich immer, um herauszufinden, ob das Tier wirklich Spass an dieser Arbeit hat.
Wann merke ich, dass das nicht der Fall ist?
Nehmen wir als Beispiel den Hund, der grundsätzlich gerne mit Menschen kooperiert. Hier ist es wichtig, dass ein Therapietier nicht über seine eigenen Grenzen geht, nur um zu gefallen. Im Training üben wir, dass es aktiv Ja oder Nein zu gewissen Situationen sagen kann und es immer einen Rückzugsort gibt, wo es in Ruhe gelassen wird. Das Selbstbestimmungsrecht des Tiers wird heute sehr ernst genommen. Unumgänglich ist auch, sich frühzeitig zu überlegen, welches potenziell gefährliche Situationen sind. Dazu gehören unberechenbare Klienten, aber auch rutschige Böden oder Pillen, die auf den Boden fallen können, in Kombination mit einem Hund, der alles frisst.
Ein putziges Gesicht und ein weiches Fell machen aus einem Tier noch kein Therapietier. Was braucht es sonst noch?
Wichtig ist eine verlässliche Beziehung und ein Grundgehorsam, vor allem bei grossen Tieren. Als Therapeutin muss ich wissen, wie das Tier in gewissen Situationen reagiert. Es sollte auch ein Interesse daran haben, aktiv auf Menschen zuzugehen. Natürlich muss es gesund sein und veterinärmedizinische Checks bestehen. Doch die Frage der Eignung ist auch abhängig davon, wo das Tier im Einsatz ist: Ein Hund, der mit Kindern arbeitet, braucht andere Qualitäten als einer, der in einer Wachkomastation zugegen ist.
Wo leisten Stofftiere oder Roboter in Tierform gute Dienste?
Mechanische oder textile Exemplare können durchaus hilfreich sein – gerade an Orten, die für Tiere zu stressig wären, oder für die Überbrückung der Zeit zwischen zwei Besuchen. Auch eignen sie sich bestens zur Vorbereitung auf das eigentliche Treffen und um beispielsweise aufzuzeigen, wo, wie und wann man das Tier streicheln darf.
Stellt tiergestützte Therapie die klassische Therapie in den Schatten?
So weit würde ich nicht gehen. Sie kann zwar sehr effektiv sein, ein Allheilmittel ist sie aber keineswegs. Für gewisse Menschen handelt es sich um den absolut richtigen Ansatz, andere wiederum können mit Tieren wenig bis nichts anfangen.
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