Geschichte
Geheimnis 1938: Die fast verschwundenen Nutztierrassen
Mit der Gründung von Pro Specie Rara 1982 wurden fast vergessene Nutztierrassen wieder gefördert. Viele gingen während der Nutztierrassenbereinigung 1938 praktisch verloren. Was da genau geschah, erklärt Philippe Ammann, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung.
Wer Nutztierrassenporträts liest, wird öfters auf den Begriff «Rassenbereinigung 1938» stossen. «Alle reden davon, Informationen gibt es aber fast keine», sagt Philippe Ammann von Pro Specie Rara. In den 1980ern taucht der Begriff Rassenbereinigung plötzlich in der Literatur auf, so auch im Buch «Tiere auf dem Schweizer Bauernhof» von Heini Hofmann aus dem Jahr 1984. Unter Rassenbereinigung wird im Allgemeinen verstanden, dass sich Schweizer Züchter damals scheinbar nur noch auf wenige Nutztierrassen fokussierten. Was genau der Auslöser dafür war und wie diese Rassenbereinigung ausgesehen hatte, fragte sich auch der Biologe Philippe Ammann.
Die gezielte Zucht von Nutztieren nach bestimmten Merkmalen begann im 19. Jahrhundert. Die Zeit der Industrialisierung liess ein stärkeres Bedürfnis nach Zuchtfortschritt und effizienter Zuchtarbeit aufflammen. Es etablierten sich Zuchtideale und ganze Zuchtprogramme. Ende des 19. Jahrhunderts begannen dann viele Züchter mit dem Führen eines Zuchtbuches.
Auserwählte Schläge einer Nutztierrasse wurden zusammengeführt und auch gefördert, während etliche andere keinen offiziellen Status erhielten. In der Schweiz gerieten deshalb einige Schaf- und Ziegenschläge unter Druck.
Selbstversorgung als Ziel
Auch das Bundesamt für Landwirtschaft erwähnt die Nutztierrassenbereinigung in der Broschüre «Tiergenetische Ressourcen der Schweizer Landwirtschaft» aus dem Jahr 2021. Dort wird der Rassenbereinigung von 1938 ein kleiner Abschnitt gewidmet, aber nicht klar definiert, worum es sich dabei eigentlich konkret handelte. Doch die Frage, die Philippe Ammann umtreibt: «Handelte es sich dabei um ein offizielles Verbot gewisser Rassen oder wurden einige einfach präferiert? Und falls es ein Verbot war, bleibt die Frage, ob es vom Bund oder den jeweiligen Kantonen erlassen wurde.» Bisher habe er aber praktisch keine Dokumente dazu gefunden. «Wäre es ein offizielles Verbot gewesen, müsste es irgendwelche Spuren hinterlassen haben», führt der Experte weiter aus. Er nehme deshalb an, dass in der offiziellen Zucht von damals plötzlich etliche Schweizer Rassen schlicht nicht mehr berücksichtigt worden seien: «Es war die Zeit der Weltkriege, und Selbstversorgung hatte einen hohen Stellenwert. Ich glaube nicht, dass man bewusst gewisse Rassen loswerden wollte, sondern sich einfach auf die damals produktivsten Rassen fokussierte, um die Landesversorgung zu stabilisieren.» So seien Nutztierrassen, welche beispielsweise eine geringere Milch- oder Fleischleistung aufwiesen, einfach zwischen die Raster gefallen.
«Es ist unklar, wie genau die Rassenbereinigung über die Bühne ging. Wahrscheinlich war sie aber gar nicht so einschneidend, wie wir vielleicht glauben», erklärt Philippe Ammann. Für die Selektion seien Zuchtprogramme eine treibende Kraft gewesen. «Doch auch die Zuchtverbände hatten wahrscheinlich einen anderen Fokus, als wir heute annehmen», meint der Biologe. «Zuchtverbände orientierten sich an Produktionsstrukturen», erklärt er. Sie seien aus Weide- und Milchgenossenschaften gewachsen. Im Zentrum standen zuerst die Alpaufteilung und die Koordination des Käsehandels, die systematische Rassezucht kam erst später dazu. «Ein wichtiger Teil der Viehzucht sind Viehschauen. Zu diesen habe ich jedoch ein etwas ambivalentes Verhältnis» sagt Philippe Ammann. «Auf der einen Seite gehören sie zur Tradition und Kultur, auf der anderen Seite können sie die genetische Vielfalt innerhalb der Rassen verengen, weil nur die Besten prämiert und damit überdurchschnittlich in der Zucht eingesetzt werden.» Der Experte erklärt, dass Viehschauen früher wahrscheinlich ganz lokal organisiert gewesen sein mussten – in einer Reichweite, die man zu Fuss mit den Kühen gehen konnte. Zudem brauchten Bäuerinnen und Bauern einen gewissen Wohlstand, um auch an einer Viehschau teilzunehmen. «Vielleicht geschah die Förderung gewisser Rassen nicht durch ein explizites Verbot, sondern durch Ausgrenzung. Als Züchter wollte man dabei sein und wechselte vielleicht auf eine offizielle Rasse, um an den Schauen zugelassen zu werden und mitmachen zu können», sagt der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Specie Rara.
Retterin der Letzten
Als Pro Specie Rara 1982 gegründet wurde, suchte die Stiftung in der ganzen Schweiz gefährdete Nutztierrassen und Kulturpflanzen zusammen. «Die waren teilweise im hintersten Tal verschollen. Da gab es glücklicherweise Leute, die diese Tiere immer noch hielten und die sich nicht um den offiziellen Status ihrer Tiere scherten», erzählt Philippe Ammann. So erging es den Walliser Ziegen. Lange wurde einzig die Schwarzhalsziege gefördert. Die Capra Sempione, die Grüenochte Geiss und die Kupferhalsziege fielen dabei durch die Maschen. Pro Specie Rara stiess 2007 auf die letzten lebenden Tiere dieser Rassen und fördert sie seither. «Dass der Bund sie mittlerweile offiziell als Schweizer Rassen anerkennt, ist eine schöne Bestätigung unserer Erhaltungsarbeit und zeigt, dass die Schweiz heute der Vielfalt einen anderen Wert beimisst als 1938», freut sich Ammann.
Viele der vergessenen Nutztierrassen seien bestens an Umgebungen angepasst, in denen Hochleistungsrassen nicht zurechtkommen, erklärt der Experte. «In steilem Gelände und wo vor allem hofeigenes Gras und Heu verfüttert werden, punkten die extensiven Nutztierassen.» Der Experte erzählt von einer Studie, in welcher getrackt wurde, wie sich Kühe auf einer Weide verhalten. Konkret wurde untersucht, in welchen Bereichen sich die Tiere meistens aufhalten. «Schwere Kühe, wie das Braunvieh oder das Fleckvieh, nutzten nur die flacheren Zonen und konnten damit nur einen Teil der Weiden beweiden», erklärt er. Denn die Leistung eines Nutztiers müsse differenziert beurteilt werden: «Hochleistungsmilchkühe mit 7500 kg Jahresleistungen sind eindrückliche Spitzensportlerinnen, die energiereiches Futter und intensive Betreuung brauchen. Betrachtet man die 3800 kg Milch, die eine Evolènerkuh liefert, ist das nur dann wenig, wenn man ausblendet, dass sie auf Weiden unterwegs ist, die andere Rassen nicht erreichen, und dass sie ihre Milch vor allem aus Raufutter macht.»
38 Nutztierrassen gelten als in der Schweiz heimische Rassen. Der Bund definiert in seiner Broschüre, dass Rassen als heimisch gelten, wenn sie vor dem Jahr 1949 ihren Ursprung in der Schweiz haben oder dass seit 1949 ein Herdebuch geführt wird. 18 der 38 Rassen gelten heute als gefährdet. Der Bund fördert sie seit dem Jahr 1998 und konnte auf die Arbeit der Stiftung Pro Specie Rara aufbauen, die 16 Jahre zuvor gegründet wurde und viele Nutztierrassen gerade noch vor dem endgültigen Verschwinden bewahren konnte.
Begriff RassenbereinigungIn diesem Kontext bezieht sich der Begriff «Rassenbereinigung»darauf, dass nur noch bestimmte Nutztierrassen gefördert wurden und andere dadurch quasi «bereinigt» wurden. Der Begriff Rassenbereinigung ist aber auch nationalsozialistisch geprägt. Der Begriff der «Rasse» stammt aus dem 17. Jahrhundert, aus jener Zeit, in der Biologen damit begannen, Tiere in Spezies einzuteilen und zu klassifizieren. Der Begriff der «menschlichen Rasse» und ihre Unterteilung war eine Anlehnung an genau diese Klassifikationen der Botaniker und Zoologen. In den Theorien der Eugenik und der Rassenhygiene wurde interpretiert, dass der «Kampf ums Dasein» nicht von Individuen, sondern von sogenannten «menschlichen Rassen» gemacht werde. Diese Annahmen wurden mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in den 1930er offizielles Politikum. Der Begriff «Rasse» wurde im Nationalsozialismus oft als Synonym für «Volk» gebraucht. Es ist jedoch klar wissenschaftlich erwiesen, dass es innerhalb der Spezies Homo Sapiens keine Rassen gibt.
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