Interview mit Herwig Grimm
Tierversuche im Wandel: Ersatz, Reduktion und Verbesserung durch das 3R-Prinzip
Tierversuche kommen in der Forschung immer wieder zum Einsatz – sei es, um Krankheiten zu bekämpfen, neue Therapien zu entwickeln oder allgemein Wissen zu schaffen. Warum dieses Thema so kontrovers diskutiert wird, erläutert Herwig Grimm, Leiter des Nationalen Forschungsprogramms «Advancing 3R – Tiere, Forschung und Gesellschaft».
Herr Grimm, wie kann man sich Ihr Forschungsprogramm vorstellen?
Herwig Grimm: Das Nationale Forschungsprogramm NFP 79 fokussiert sich auf drei Module: Innovation, Implementierung sowie Gesellschaft und Ethik. Solche Forschungsprogramme greifen politisch brisante Themen auf, formulieren Konzepte und definieren, wie Wissenschaft zur Analyse und Lösung beitragen kann. Anschliessend werden die Ergebnisse zurück in die Gesellschaft gespielt. Bei unserem Programm geht es um Tierversuche und die Förderung der 3R.
Wofür stehen die drei R?
Die drei R stehen für Replace, Reduce, Refine – also Ersatz, Reduktion und Verbesserung. Replace bedeutet, Tierversuche durch andere Methoden zu ersetzen, wenn möglich. Reduce heisst, möglichst wenige Tiere zu verwenden. Refine zielt darauf ab, die Belastungen der Tiere zu minimieren sowie ihnen ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen, sowohl in der Haltung, als auch während der Verwendung für wissenschaftliche Zwecke, wie etwa in Forschungsexperimenten.
Es gibt aber auch Kritik an den 3R, oder?
Ja, manche sagen etwa, dass die Verbesserung der Situation den Druck verringert, Tierversuche ganz abzuschaffen. Es treffen zwei normative Ansätze aufeinander: die Idee, die Lebensbedingungen der Tiere zu verbessern, und die Forderung, Tierversuche möglichst vollständig zu vermeiden. Das NFP 79 setzt hier an, weil das 3R-Konzept sehr einflussreich ist – rechtlich ist es in Europa und der Schweiz verpflichtend anzuwenden.
Und es wird tatsächlich angewendet?
Wenn nicht, könnte ein Tierversuch gar nicht bewilligt werden. Jeder Versuch wird einzeln geprüft, jedes verwendete Tier muss gerechtfertigt sein. Wenn die Begründung nicht ausreicht, verweigert die Behörde die Genehmigung des Tierversuches.
Können Sie ein Beispiel der Anwendung von 3R nennen?
Da wäre zum Beispiel die MDA-Methode. Bei Tierversuchen werden den Tieren häufig Substanzen oral verabreicht, meist über eine Sonde, die in den Magen eingeführt wird, was Stress und Verletzungen an der Speiseröhre verursachen kann. Als Alternative dazu hat ein Team an der Universität Zürich die MDA-Methode für Nagetiere entwickelt: Die Mäuse lernen dabei, die Substanz von der Spitze einer Pipette zu trinken. Allerdings stellt sich die Frage, wie viele Ressourcen und Personal für die Umsetzung benötigt werden. Es entsteht ein Abwägungsprozess zwischen Tierwohl, Aufwand und ökonomischen Kosten – auch bei der Anwendung der 3R.
Welche Alternativen zu Tierversuchen gibt es denn?
Traditionell sind das zum Beispiel Zellkulturen in Petrischalen, aber auch Computermodelle und zunehmend Methoden mit künstlicher Intelligenz. Wenn Labore jahrelang mit Mausmodellen gearbeitet haben, ist die Umstellung auf neue Methoden eine Herausforderung – technisch, organisatorisch und finanziell. Dennoch sind die 3R gesetzlich verankert und müssen bei jeder Forschung berücksichtigt werden.
Ganz salopp gefragt, wozu braucht es überhaupt Forschung?
Forschung ist grundsätzlich systematische und methodengeleitete Wissensproduktion. Ohne sie hätten wir Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, nicht. Wenn man es auf Tierversuche überträgt: Einige Forschungsfragen lassen sich noch nicht ohne Tiere beantworten. Wo alternative Modelle dasselbe valide Wissen liefern, dürfen heute dank des 3R-Konzeptes keine Tiere mehr eingesetzt werden.
Wie steht es um die Zukunft von Tierversuchen?
In Europa geht man den Weg zu tierversuchsfreier Forschung schrittweise, nicht über ein radikales Verbot. Tierversuche sind bereits heute nur zulässig, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: Instrumentelle Unerlässlichkeit – also, wenn die Forschungsfrage ohne Tiere nicht beantwortet werden kann – und finale Unerlässlichkeit – also, wenn der erwartete Nutzen den Einsatz der Tiere rechtfertigt. Oft betrifft dies die Heilung oder Therapie menschlicher Krankheiten. Hier ist die Schaden-Nutzen-Analyse zu erwähnen, mit welcher Anträge beurteilt werden: Lohnt sich der Versuch, und ist er moralisch vertretbar? Ein generelles Verbot würde aber in vielen Bereichen massive Änderungen bedeuten, wie etwa in der Grundlagenforschung, klinischen Studien, Sicherheitstests, Ausbildung von Ärzten und Tierärzten, Artenschutz und Forensik.
Steht das Tierwohl gar nicht im Vordergrund?
Doch, aber es geht bei Tierversuchen um Wissensproduktion und die Frage, ob und wie sehr Tierwohl eingeschränkt werden darf. Anders ist die Rechtfertigungslogik etwa in der Lebensmittelproduktion. Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Begründung der Nutzung und Belastung von Tieren und den relevanten gesellschaftlichen Werten. Beim Tierversuch geht es um Wissen, bei der Nutztierhaltung um Lebensmittel. 2023 wurden in der Schweiz rund 600 000 Versuchstiere eingesetzt. Zum Vergleich: 2024 wurden 86 Millionen Nutztiere geschlachtet – 143-mal so viele Tiere. Gleichzeitig verliert wissenschaftliches Wissen in der Gesellschaft aber an Vertrauen: Viele Menschen vertrauen eher ihrem Bauchgefühl als der Wissenschaft. Dies erklärt, neben anderen Punkten, die starke Kritik an Tierversuchen, obwohl die Belastung der Versuchstiere oft geringer sein kann als bei Nutztieren.
Sinkt das Vertrauen in die Wissenschaft?
Ja, das Vertrauen in wissenschaftlich generiertes Wissen nimmt ab, während der Wert von Tierschutz steigt. Die Debatte über Tierversuche spiegelt diesen Konflikt. Die Schweiz führt hier viele Diskussionen, und diese gesellschaftliche Beteiligung ist auch immens wichtig. Innovation allein reicht nicht – es braucht Debatten, um den richtigen Weg zu finden.
Würde man überhaupt gänzlich ohne Tierversuche zurechtkommen?
Ob wir in Zukunft gänzlich ohne Tierversuche aus-kommen könnten, lässt sich schwer beantworten. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass die schnelle Entwicklung von Impfstoffen ohne Tierversuche wahrscheinlich nicht so schnell möglich gewesen wäre. In manchen Bereichen könnten wir relativ wenig verlieren, in anderen wäre der Verzicht schwer zu rechtfertigen. Es gibt hier keine einfachen Antworten – jede Vereinfachung ignoriert das vielschichtige und komplexe Zusammenspiel von wissenschaftlichem Fortschritt, ethischen Prinzipien und gesellschaftlicher Verantwortung.
Was wären die Vor- und Nachteile, wenn keine Tierversuche mehr stattfinden würden?
Um ein Beispiel zu nennen: Kosmetische Produkte dürfen nicht mehr mit Tieren getestet werden. Dieses Verbot wurde möglich, weil man die toxischen Wirkungen auch mit Alternativen testen kann, und es entstand kein Nachteil. Schwieriger ist es in der Grundlagenforschung: 77 Prozent der Mäuse werden dort eingesetzt. Aber auch hier können Forschungsfragen angepasst, KI genutzt und Daten ausgewertet werden, um Tierversuche zu vermeiden. Die grösste Herausforderung besteht darin, zu prüfen, ob eine alternative Methode existiert und ob diese wirklich zielführend ist. Tierversuche und 3R-Forschung sind komplex; daher auch hier die Ermahnung, dass es keine einfachen Antworten gibt, beziehungsweise, dass man diesen gegenüber skeptisch sein sollte.
Sehen Sie der Zukunft der tierversuchsfreien Forschung dennoch optimistisch entgegen?
Ja, aber Veränderung braucht Zeit und Ressourcen. Länder wie die Niederlande zeigen, dass wenn man Geld in die Hand nimmt, der Wandel beschleunigt werden kann. Es gibt grosses Potenzial, aber wir müssen realistisch sein: Innovation allein reicht nicht, es braucht gesellschaftliche Debatten, Beteiligung und klare Prioritäten.
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