Columbus ist neugierig: Die Albinoratte stammt aus einem Labor der Uni Bern. Laborratten hätten eigentlich keine Namen, erzählt Yvonne Keller. «Aber Columbus ist bei den Versuchen so neugierig gewesen und immer vorausgegangen, dass er den Namen Columbus erhielt», schmunzelt sie. Die 40-jährige medizinische Praxisassistentin ist die Vizepräsidentin des Rattenclubs, einer Sektion des Schweizer Tierschutzes (STS). Auf die Ratte gekommen ist sie ganz zufälligerweise vor 14 Jahren. Sie wollte ein Haustier, wusste aber nicht, welches. Nach einem Besuch bei einer Freundin, die Ratten hielt, entschied sie sich, dem Club der Rattenfreunde beizutreten. Durch diese Organisation erhielt sie auch ihre ersten Ratten: In der Nähe von Interlaken mussten fehlgezüchtete Ratten abgeholt werden – notfallmässig. Eigentlich wollte sie nie Ratten mit roten Augen, doch als ihr die erste den Arm hochkletterte, war es um Yvonne Keller geschehen.

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Columbus und fünf andere Rattenjungs wurden Ende April 2024 von Yvonne Keller bei der Universität Bern abgeholt. Sie ist Teil des «Rehoming-Projektes», welches 2018 aus einem Dialog des STS und der Universität Zürich entstand. Mittlerweile haben sich aber auch andere Universitäten wie jene von Lausanne, Bern und Basel dem Projekt angeschlossen. Das Ziel: ehemalige Labortiere vermitteln. Welche Tiere aber dafür infrage kommen, sei laut Dr. Paulin Jirkof, zuständig für das Tierwohl und 3R an der Universität Zürich, streng reglementiert. Zur Adoption freigegeben werden nur Tiere, die nicht genetisch verändert und an denenkeine Versuche der höheren Schweregrade gemacht wurden. Tierversuche sind in vier unterschiedliche Stufen je nach Belastung eingeteilt. Auf der Stufe 0 werden zum Beispiel Verhaltensbeobachtungen durchgeführt. Unter der ersten Stufe laufen die Implantation von Mikrochips oder ein kurzzeitiger Futterentzug. Die Stufe 2 beschreibt dann schon invasivere Eingriffe wie Kastrationen. Auf der letzten Stufe, der Stufe 3, sind Tiere mittel- bis langfristigem Stress oder Schmerz ausgesetzt. Aber nur 2 bis 3 Prozent aller Tierversuche finden auf dieser Stufe statt. Der Grossteil davon ist für die humanmedizinische Forschung. Ein Beispiel auf Stufe 3 wäre eine Organtransplantation. Nur Tiere der ersten beiden Versuchsstufen dürfen fürs «Rehoming-Projekt» angemeldet werden. Die Biologin erklärt, dass Forschende die Tiere selbst anmelden müssen und auch die Hälfte der Kosten für die Vermittlung tragen, die andere Hälfte zahlt der STS. Grundsätzlich empfehle die Uni aber, die Rehoming-Kosten mit den Forschungsgeldern zu beantragen.

Vom Labor nach Hause

Nun zurück zu den Ratten, die es aus dem Laborgeschafft haben: Yvonne Keller hat in ihrer Wohnung drei Rattenkäfige und für den Notfall noch einen im Keller. In ihrem Wohnzimmer stehen zwei grosseKäfige – im gelben die ehemaligen Laborratten und in dem daneben ihre eigenen. Auch diese stammen aus dem Labor und kamen im Herbst zu ihr – sie wollte sie gleich zu sich nehmen. Die Universitäten melden die Ratten beim STS an, dieser gibt die Anfrage an den Club der Rattenfreunde weiter, der die Ratten danach an Pflegestellen koordiniert. Insgesamt gäbe es nur vier, notfalls fünf Pflegestellen, erzählt die Vizepräsidentin. Der Ablauf sei bei allen Ratten gleich: Die Männchen werden zuerst kastriert und die Weibchen müssen mindestens drei Wochen in der Pflegestelle bleiben, um eine Schwangerschaft auszuschliessen. Ratten haben zwar mit zwei bis maximal drei Jahren nur eine kurze Lebenszeit, sie sind aber bekannt für ihre Fruchtbarkeit. Ein Wurf kann bis zu 20 Tiere umfassen und die Jungtiere sind schon nach fünf Wochen geschlechtsreif. Yvonne Keller erklärt, dass dies leider oft der Grund für ungewollte Zuchten sei.

«Ratten gehören zu den besten Haustieren. Sie sind sehr intelligent»

Yvonne Keller, Vizepräsidentin des Rattenclubs

«Die Laborratten sind sehr, sehr scheu», erzählt die Rattenexpertin. Nach der Ankunft müssten sie sich zuerst an all die Geräusche und Bewegungen vor dem Käfig gewöhnen. Interessant sei auch, dass die Tiere oft einige Tage auf einer Etage des Käfigs bleiben, bis sie sich trauen, die weiteren Stockwerke des grossen Käfigs zu erkunden. Beim anfänglichen Verhalten gebe es aber sehr grosse Unterschiede, je nach Universität.Gewisse seien zutraulicher, andere weniger. «Mit etwas Zeit entwickeln sie sich aber normal, wie andere als Haustiere gehaltene Ratten.»

So oder so: Die Haltung von Ratten sei nicht ohne. Im Gegensatz zu anderen Nagern gehören sie nicht zu den Buddlern, sondern Lauftiere und brauchen viel Platz. «Und idealerweise ein bis zwei Stunden Auslauf am Tag», ergänzt Yvonne Keller. Zudem seien im Vergleich mit anderen Nagern sehr empfindlich, was Staub angeht. Sägespäne als Einstreu sind deshalb tabu. Für Ratten sind Zeitungsschnitzel, Frottiertücher oder auch Katzeneinstreu besser. «Ratten gehören zu den besten Haustieren. Sie sind sehr intelligent», erzählt Yvonne Keller, während sie Columbus ein Drops füttert. Die Ratten werden nach ihrer Ankunft Schritt für Schritt auf Frischfutter umgestellt. Im Labor erhielten sie nur Futterpellets. Von der Laborhaltung will Yvonne Keller aber nicht alles wissen: «Ich bin sehr emotional und rege mich schnell auf, wenn’s um Tiere geht.»

Die Haltung an den Universitäten ist aber mit dem Tierschutzgesetz und spezifischen Verordnungen streng reglementiert. Ratten leben dort in Gruppen nach Tierschutzstandards. An der Universität Zürich leben die Ratten in einem Teil der Uni, der unabhängig ist. Die Forschenden mieten sich dort quasi mit ihren Tieren ein. Betreibt eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler Tierversuche, gehören die Tiere ihnen. Sie können auch bestimmte Anforderungen an die Haltung stellen. Betreut werden die Labortiere von Tierpflegern und Veterinärinnen. Das «Rehoming-Projekt» sei ihr Herzensprojekt, erklärt Dr. Paulin Jirkof. Bis Ende 2023 hätte die Universität Zürich 343 Ratten, 239 Mäuse, 21 Hunde und 3 Kaninchen an private Plätze vermittelt. Nicht alle davon liefen über das Rehoming-Projekt, die Forschenden würden auch einige Tiere privat abgeben, erläutert sie.

Saubere Pfleglinge

Tiere des Rehoming-Projekts werden nur mit einem speziellen Vertrag vermittelt. Sie dürfen weder ins Ausland noch zurück ins Labor. Wenn Halter die Tiere abgeben müssen, werden sie an den Rattenclub zurückgegeben. «So will man sicherstellen, dass wirklich um ihre Pflege gesorgt ist», meint Yvonne Keller. Sie betont aber, dass es auch viele private Menschen gäbe, die ihre Tiere falsch halten würden oder falsche Vorstellungen hätten. Sie habe auch schon Tiere nicht abgegeben. Die Vermittlung der Tiere laufe über den Club der Rattenfreunde. Interessierte müssen sich mit Bildern desKäfigs bewerben und werden auch zu einem Gespräch eingeladen. Die sechs Jungs hinter ihr würden bald nach Langenthal an ein neues Plätzchen umziehen. Als Yvonne Keller vor dem Käfig steht, warten die Ratten schon am Käfigtürchen. Die neugierigen Tiere lassen sich auch aus der Hand füttern.

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«Ich gebe Pfleglingen keinen Namen, sonst kann ich sie nicht mehr abgeben», sagt sie, während die Rattenexpertin Columbus, der schon so hiess, auf ihre Arme hebt. Columbus gehört zu den Wistar-Ratten, einer Rasse, die extra für das Labor gezüchtet wurde. Sie gelten als ruhig und freundlich untereinander. Ratten sind Rudeltiere und haben eine klare Rangordnung, zum Vergesellschaften seien die Laborratten aber ausgesprochen einfach, erzählt die Rattenexpertin. Sie ergänzt: «Ratten sind ausserordentlich saubere Tiere und im Gegensatz zum verbreiteten Glauben haben sie einen behaarten Schwanz.