Stellen wir uns den eigenen Besuch in der Zahnklinik vor: Spätestens beim Empfang nistet sich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend ein. Nach einer gefühlt endlosen Wartezeit rund um ebenfalls gestresst wirkende Patienten geht es endlich los. Doch im Behandlungsraum werden die schlechten Erinnerungen an frühere Besuche noch greifbarer. Menschen diskutieren etwas Unverständliches. Panische Angst kommt auf. Die Flucht zu ergreifen, scheint die beste Option. Doch sie sind vorbereitet. Widerstand ist zwecklos. Es folgt ein unangenehmer Stich.

Kaum ein Mensch würde je wieder freiwillig einen Fuss in diese Praxis setzen. Doch für sehr ängstliche Haustiere kann ein ähnliches Erlebnis die jährliche Routine bedeuten. «Mit jungen Katzen, die noch keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, ist der Gang in die Klinik meist kein Problem», weiss die Verhaltensberaterin Brigitte Richner. Je älter die Katzen jedoch werden, desto mühseliger wird das Prozedere. Auch ihre Menschen sind meistens schon morgens nervös und fragen sich, wie sie ihren Stubentiger überhaupt noch in die Box reinkriegen. «Die Katze merkt uns sofort an, dass etwas nicht stimmt», so Richner. «Also ist sie vor dem Transport bereits angespannt.» Auf dem ungeliebten Weg zur Untersuchung kommen weitere Stressoren hinzu. Die Kaskade, die bereits zu Hause begonnen hat, nimmt ihren Lauf und die Stresshormone fluten den gesamten Körper. Fühlt sich die Katze dann auf dem Behandlungstisch auch noch bedroht, kann die Angst so gross werden, dass eben extreme Reaktionen folgen: Entweder, die Katze versucht verzweifelt zu fliehen (Flight), kratzt und beisst, um sich loszueisen (Fight), oder erstarrt (Freeze). Hat sich die Katze dazu entschlossen, sich zu wehren, wird sie häufig als aggressiv und unberechenbar abgestempelt. Im Freeze hingegen wirkt sie umgänglich und kooperativ und wird dafür gelobt. «Jedoch ist es so, dass die Katze in all diesen Fällen um ihr Wohlergehen fürchtet, wenn nicht gar um ihr Leben», stellt Richner klar.

Zeit ist Geld

Die meisten Tierkliniken haben ihre Strategien, wie sie Katzen im Notfall festhalten können, um die Untersuchung durchführen zu können. Viele setzen dazu spezielle Haltetücher ein, andere Fixiertaschen oder gar lederne Handschuhe. «Die Folgen für die mentale Gesundheit der Tiere sind in jedem Fall gravierend», hält Richner fest. Eine absolute Handlungsunfähigkeit könne zu einer erlernten Hilflosigkeit führen. Forschungen in der Humanpsychologie zeigen auf, dass diese oft in Zusammenhang mit psychischen Störungen – mehrheitlich Depressionen – gebracht werden können. «Untersuchungen an Nagetieren lassen den Schluss zu, dass diese Verbindung auch bei Tieren besteht», so Richner. Das Problem sieht sie nicht bei den Tierärzten. «Auch sie müssen ihr Programm bis am Abend durchbringen», ist der Katzenpsychologin bewusst. «Für eine Untersuchung sind vielleicht zehn Minuten eingerechnet. Da bleibt kaum Zeit, um auf Körpersignale zu reagieren.» Ideal wäre, der Katze Pausen zu gewähren, wenn sie diese braucht, erklärt Richner. «Stellt man ihr jedoch nach, wenn sie zurückweicht, ist das Bedrohung pur.» Das Adrenalin verändert nicht nur Blutwerte, sondern führt auch dazu, dass eine sonst humpelnde Katze auf einmal keine Schmerzen mehr spürt, was eine Diagnose erschwert.

Ein medizinischer Check-up ganz ohne Stress wird es in der Geschichte der Hauskatzen wohl nie geben. «Tatsächlich ist das der häufigste Grund, weshalb Leute nicht mit ihren Katzen zum Tierarzt gehen», weiss Brigitte Richner. Ihrer Meinung nach rechtfertigt dies jedoch kein Kneifen. Denn mittlerweile setzen immer mehr Tierkliniken auf grössere Zeitfenster für Untersuchungen, um eben auf Körpersignale reagieren und damit panische «Ausraster» der Katzen vermeiden zu können. Voraussetzung dafür sind allerdings Halterinnen und Halter, die bereit sind, für diesen Mehrwert zu bezahlen und sich die nötige Zeit zu nehmen.

Positive Verknüpfungen schaffen

Auch wenn das Budget knapp ist, können Katzenbesitzerinnen und -besitzer so einiges tun, um den Stress für ihr Tier möglichst gering zu halten. «Am einfachsten geht das, wenn man mit jungen Katzen von Anfang an Medical Training macht», rät Richner. In der Praxis bedeutet das, den Stubentiger spielerisch daran zu gewöhnen, dass er untersucht wird. Auch ein Boxentraining kann viel bewirken, damit der Stress frühestens in der Tierklinik beginnt. Dazu gehört, die Box vor der ersten Nutzung gemütlich auszustatten und zur freien Erkundung herumstehen zu lassen. So wird sie für die Katze zu einem bekannten Rückzugs- und Wohlfühlort. Danach sollte man die Box mit der Katze drin mal anheben und in der Wohnung herumtragen. «Wichtig ist es, in kleinen Schritten vorzugehen», betont Richner. «Das Ziel ist, dass die Katze die Box cool findet und völlig entspannt darin ist.» Damit das auch am Tag X funktioniert, gehört dazu, die Box ein paar Mal mitsamt der Katze ins Auto zu stellen und mit ihr herumzufahren. Klappt das alles ohne Protest, kann man auch einmal die Tierklinik besuchen und den Ausflug mit einem Leckerli von den Angestellten krönen.

Auch bei älteren Katzen, die bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben, kann ein Medical Training helfen, betont Richner. In diesem Fall empfiehlt sie jedoch eine Begleitung durch eine erfahrene Fachkraft. Wenn die Zeit dafür fehlt, die Katze aber stets massive Stressreaktionen zeigt, können in Absprache mit dem Tierarzt Beruhigungsmittel (z.B. Gabapentin) hilfreich sein. Ein Leckerli als Belohnung und ganz viel Lob während und nach jedem Untersuch sollte so oder so drin liegen.