Ein Arvenwald macht auf Wanderer einen besonderen Eindruck, wenn er plötzlich nach einer Biegung um eine Hügelkuppe zum Vorschein kommt. Die dunkelgrünen Bäume wirken erhaben, stoisch, der Zeit entrückt. Der Kampf mit den Elementen ist ihnen anzusehen. Sie vertragen grosse, lang anhaltende Kälte, trotzen harschen Winden, Schnee, halten heisse sommerliche Sonnenstrahlen aus und überdauern als Tiefwurzler Trockenperioden.

Wer Hunderte von Jahren alt wird, den hauen weder Alpengewitter noch beissende Schneewinde um. Manchmal findet sich in der Literatur die Altersangabe von 1000 Jahren. Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) nennt 400 Jahre als Höchstalter, die Informationsplattform für Pflanzen in der Schweiz, Info Flora, schreibt von 600 Jahren.

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Wer will das so genau wissen? Sicher ist, dass eine Arve viele Menschenleben in sich vereint. Umso dramatischer ist, wie rasch ihr der Mensch zu Leibe gerückt ist. Während der letzten Jahrhunderte wurde die Arve intensiv genutzt, oft auch übernutzt und gerodet, um Alpweiden zu gewinnen. Zurückgeblieben sind nur die Flurnamen mit Arvenbezug wie etwa Arvenbüel ob Amden oder die wohlduftenden Arvenstuben in vielen Bündner Restaurants. Die Nutzung der Arve stand lange Zeit in keinem Verhältnis zum äusserst langsamen Wachstum dieses Baums.

Der geflügelte Oberförster

Zudem wuchsen immer weniger neue Arven nach. Arvennüsschen waren eine beliebte Nascherei bei der Alpenbevölkerung. Da es immer weniger dieser Bäume gab, wurde es verboten, die Nüsschen zu sammeln. Bald aber hatte man einen anderen Sündenbock für das Verschwinden der Königin der Alpen gefunden: den Tannenhäher. Das schwarz-braune, weiss getüpfelte Federkleid zeichnet diesen Alpenbewohner aus. Tatsächlich ernährt er sich hauptsächlich von den Samen der Arven. Er sorgt auch für schlechte Zeiten vor. Zwischen 45 000 und 100 000 Arvensamen versteckt ein Tannenhäher im Jahr durchschnittlich als Wintervorrat. Davon findet er etwa 80 Prozent wieder.

Obwohl bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von diesem Verhalten berichtet wurde, ging es dem Vogel an den Kragen. Er wurde als «schlimmer Räuber» verschrien, schnell war eine Prämie von einem Franken pro erlegtem Tannenhäher ausgesetzt. Erst 1961wurde der Abschuss eingestellt, als definitiv festgestellt wurde: Der Tannenhäher schädigt den Arvenwald nicht. Ganz im Gegenteil! Er ist ein richtiger Oberförster, denn er verbreitet die Samen! Je weniger Tannenhäher es gibt, desto spärlicher werden die Arven.

Samen sind nämlich schwer und fallen ohne Häher in der Nähe des Stamms oder talabwärts nieder. Nur der Tannenhäher trägt sie an entlegene Stellen, bis zu 15 Kilometer weit, und auch in Gebiete weit oberhalb des Baums. So kommt es, dass der Tannenhäher Arvensamen gar über der Baumgrenze versteckt, wo die Majestät der Alpen schliesslich ohne Konkurrenz gedeiht. Über 80 Prozent des Arvenbestandes wachsen oberhalb von 1800 Meter über Meer, 50 Prozent gar oberhalb von 2000 Meter. Die Arve wächst an der Waldgrenze zusammen mit Lärchen. Beide Baumarten klettern bis 2400, manchmal gar bis 2800 Meter über Meer.

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Arven sind im Alpenbogen verbreitet, in der Schweiz besonders in den Kantonen Graubünden (im Engadin) und im Wallis. Weitere kleinere Bestände wachsen in hohen Lagen der Kantone St. Gallen (Oberland), Glarus, Bern (Oberland), Waadtland, Freiburg und Tessin. Weiter kommt die Arve in den Karpaten vor.

Ihr Areal veränderte sich während der Eiszeiten ständig, als sich Gletscher ausdehnten und zurück-zogen. Heute scheint der Schweizer Arvenbestand mit etwa 5,7 Millionen Bäumen gemäss WSL gesichert. Zur Freude der Wanderer und der Tannenhäher.