Amazonien: Das bedeutet modrige, heisse Luft, heftige Tropengewitter, kaffeebraune, mäandernde Wassermassen, Überschwemmungswälder, Vogelschreie, Mücken und ein unendliches grünes Pflanzenmeer. Es heisst aber auch Grossstadt, schnurgerade Strassen, Feuersbrünste, Abholzung, Quecksilberverseuchung und Monokulturen.

Amazonien ist kein Land. Es ist eine Region, die zahlreiche Länder Südamerikas umfasst. Im Uhrzeigersinn, bei zwölf Uhr angefangen, erstreckt sich das Gebiet über Venezuela, Guyana, Surinam, Französisch-Guyana, Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien. Mittendrin und riesig: Brasilien.

Kein anderer Fluss führt so viel Wasser wie der Amazonas. Rund 10 000 Nebenflüsse schwemmen Wasser in den mächtigen Strom mit einem Einzugsgebiet von 6,7 Millionen Quadratkilometern. Das meiste Wasser fliesst von den teilweise über 6000 Meter hohen Anden von West nach Ost – auf einer Strecke von 6788 Kilometern. Selbst in der Trockenzeit ist der Amazonas stellenweise zehn bis zwanzig Kilometer breit. Zum Vergleich: Der Bodensee misst an der breitesten Stelle gerade mal vierzehn Kilometer.

Gekreisch an den Lehmlecken

In grosser Höhe ergiessen sich bei eisigen Tempera-turen Rinnsale über Felsen, sprudeln tiefer und gelangen irgendwann zur Baumgrenze. Hier drängen sie sich durch mit Epiphyten bewachsene Nebelwälder, kämpfen sich weiter in Richtung des amazonischen Tieflandregenwaldes, wo sie beispielsweise in den Rio Tambopata münden. Der braune Fluss windet sich durch die grüne Pflanzenwelt wie eine dicke Würgeschlange. Das Wasser nagt stetig an Steilufern, Erde bröckelt, bis die Bäume abbrechen und weggeschwemmt werden. Immer wieder treiben Baumstämme in den Fluten. «Wir sind im Araland», sagt Edwin Salazar Zapata lächelnd und folgt mit seinem Blick einem Paar der Papageien, die krächzend dem Flusslauf am Himmel folgen. Er ist auf einem «Zepezepe» unterwegs in die Forschungsstation Tambopata, wo er eine Liste über die Vögel dieses Gebiets erstellen will. «Zepezepe» werden solche Schiffe in Peru wegen ihres Motors genannt, dessen Tuckern «zepezepe» zu rufen scheint

Der Motor scheppert, das Holzboot gleitet ins Wasser und knarzt wenig später auf eine Kiesbank.

Ganz in der Nähe der Forschungsstation Tambopata befindet sich eine Lehmlecke, wo sich frühmorgens ein unglaubliches Schauspiel vollzieht. Lehmleckenwerden in Peru auch «Colpas» genannt und sindspezielle Abbruchkanten im Gestein oder Boden, wo mineralhaltige Erde zutage tritt. «Man muss noch vor Sonnenaufgang auf der Sandbank sein», raunt Salazar Zapata. In der Tropennacht sirren, zirpen, summen und rascheln Myriaden von Insekten. Am nächsten Morgen sind Bettzeug und Kleider klamm von der Feuchtigkeit der Nacht. Durch die Hütte flattern Fledermäuse, gros-se Falter prallen gegen den grellen Schein der Taschenlampe. Am Bootssteg hebt sich schemenhaft die Silhouette des Schiffers ab. Der Motor scheppert, das Holzboot gleitet ins Wasser und knarzt wenig später auf eine Kiesbank. Kaum angelangt, zeichnet sich im Westen ein heller Lichtstreifen ab. Wie auf Kommando gellen quäkende Schreie von den Anden her über den Regenwald. Hunderte Rotbauch- und Rotbugaras tauchen wie aus dem Nichts auf und kreisen über der Flussbank um eine ockergelbe Abbruchkante. Das dunkle Krächzen grosser Aras mischt sich dazu. Als die Sonne ihre flammenden Strahlen über das Kronendach sendet und die «Colpa» bescheint, krallen sich erste Papageien am Gestein fest. «Sie fressen den Lehm, um Gifte zu neutralisieren, die sie durch den Verzehr von unreifen Samen und Früchten aufnehmen», erklärt Edwin Salazar Zapata.

Der Amazonas floss einst von Ost nach West durch den riesigen Urkontinent Gondwanaland.

Etwa eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang sind die Aras verschwunden, nur noch der Fluss plätschert, und ein Tayra, ein marderartiges Tier, hetzt durch den Wald. Immer wieder bahnen sich die braunen Wassermassen neue Wege durch das flache Tiefland, alte Flussarme bleiben zurück und werden zu Seen, im angrenzenden Sumpf wachsen Buriti-Palmen. Ein Tummelfeld für die Riesenotter, deren weisser Brustlatz hell aufblitzt, wenn sie aus den Fluten lugen. In überhängenden Ästen von Sträuchern am Ufer schnarren Hoatzine, urtümliche Vögel, deren Junge gar Krallen an den Flügelellen haben, fast so wie ein Archaeopteryx. Wenn sie aus dem Nest fallen, hangeln sie sich damit wieder durch die Äste zurück. Flachlandtapire und Jaguare lassen sich nicht blicken. Von ihnen zeugen lediglich ihre frischen Spuren im Schlick. Da zeigen sich die Capybaras schon eher. Die Wasserschweine, die aussehen wie riesige Meerschweinchen, lagern auf einer sandigen Flussbank.

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Der Ur-Amazonas

Der Wald entfaltet seinen Reichtum in vier Etagen. Während am fast windstillen und düsteren Waldboden modrige Luft durch das Unterholz wabert, sodass nur Blattpflanzen wie etwa Maranten gedeihen, ist die Kronenschicht, dort, wo Orchideen, Blattkakteen undBromelien als Aufsitzerpflanzen siedeln und Trupps von Totenkopfäffchen keckernd durch das Astwerk streifen, von Licht durchflutet. Aus der Kronenschicht ragen einzelne Urwaldriesen, die Überständer. Auf ihren Ästen ruhen sich Arassaris und Faulvögel aus oder Greifstachler verschlafen, einen Fellknäuelbildend, den Tag. Den Stämmen der Urwaldbäume empor ranken Kletterpflanzen wie Philodendren. In der Zwischenschicht entfalten sich Palmen, Helikonien und Bambus, Prachtpipras vollführen ihr faszinierendes Balzspiel auf wippenden Zweigen, der Ozelot streift über Lianen, eine Abgottschlange windet sich entlang eines Asts. Es gibt Teile Amazoniens, den Várzea-Wald, wo sich zeitweise alle Tiere in die Kronenschicht zurückziehen und dort leben. Regen prasselt und dunkle Fluten schieben sich nicht nur durch das breite Flussbett, sondern auch durch Baumkronen und Dickicht. Dort, wo der Amazonas in Brasilien noch Rio Solimões heisst, also bevor er mit dem Rio Negro zusammentrifft, dehnt sich ein riesiges Auenwaldgebiet auf etwa 250 000 Quadratkilometern aus. Durch Regenwasser und Schmelzwasser aus den Anden steigt der Wasserspiegel um 10 bis 15 Meter an. Heftige Gewitter lösen bei vielen Fischen den Laichtrieb aus, denn Regenwasser schwemmt Erde und Insekten in die Gewässer, eine gute Nahrung für Junge. Der Rio Solimões ist ein nährstoffreicher Weisswasserfluss. Man sieht vom Kanu aus kaum die Hand, die man ins Wasser streckt. Das Wasser des Rio Negro ist durch die gelösten Humusstoffe teefarben. Es ist nährstoffarm und darum nur schwach von Fischen besiedelt und hat seinen Ursprung in Mooren und Regenwaldböden.

Sobald der Regen im Überschwemmungswald nachgelassen hat, brechen Sonnenstrahlen durch den Dunst. Blaubartamazonen putzen auf den pionierartig wachsenden Cecropia-Bäumen sitzend ihr Gefieder, gemächlich hangelt sich ein Faultier durch die Kronenschicht, am schwarzen Stamm im Wasser raspeln Antennenwelse Algen ab, ein Kolibri schwirrt durch die Ufervegetation zu seinem winzigen Napfnest. In einem Altwasserarm, der nun mit den übrigen Fluten verbunden ist, entfalten sich riesige Seerosenblätter der Victoria amazonica, grösser als Kuchenbleche. Aus den dunklen Fluten springt immer wieder ein mysteriöser, heller Körper, ähnlich einem Menschen. Es ist ein Boto, oder Amazonasdelfin, ein für die ansässige Bevölkerung sagenhaftes Wesen.

Die Erklärung, warum es im Zentrum Südamerikas ein solch riesiges, flaches Gebiet gibt, das wie ein Schwamm wirkt, der manchmal trockener und dann wieder triefend nass ist, reicht weit in die Erdgeschichte zurück: Der Amazonas floss einst von Ost nach West, vor der Bildung der Anden, als Afrika und Südamerika noch ein einziger Kontinent waren. Fügt man densüdamerikanischen Kontinent an Afrika an, bildet der westafrikanische Fluss Niger exakt den Anfang des Amazonasstroms – den Ur-Amazonas. Noch heute wird Amazonien durch den afrikanischen Kontinent beeinflusst. Jährlich werden 20 Millionen Tonnen nährstoffreicher Sandstaub aus der Sahara mit dem Passatwind nach Amazonien getragen, der die Pflanzen mit Nährstoffen versorgt.

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Leben im Urwald

Amazonien ist seit jeher auch ein Lebensraum fürviele Menschen. Die Kaboklos bewohnen die besondere Welt zwischen Wasser und Kronenschicht. Sie lagern während der Flut in einem Kanu Setzlinge. Zieht sich das Wasser zurück, werden die Setzlinge in die fruchtbare Erde eingepflanzt. Während der Flut leben die Kaboklos in Häusern auf Stelzen. Oder sie ziehen sich in den Tierra-Firme-Wald zurück, der nicht überschwemmt wird.

Vermutlich sind Menschen vor 30 000 Jahren nach Südamerika gelangt, Felszeichnungen zeugen von der Besiedlung. Heute leben noch über 400 Ethnien inAmazonien. Wenn der Wald intakt ist, können dieBewohner von ihm leben. Mitten im Amazonasgebiet gibt es auch Metropolen wie etwa Manaus. Die Stadt ist lediglich über zwei Strassen mit der Aussenwelt verbunden, viel wichtiger ist der Schiffsverkehr. Ganz auf Schiffe oder auf Flugzeuge angewiesen sind die Einwohner von Tabatinga, einem Ort im Grenzgebiet von Kolumbien, Peru und Brasilien.

Der Druck der Zivilisation wirkt sich immer mehr auf Amazonien aus. Durch Brandrodung wird landwirtschaftliche Fläche gewonnen. Der Tropenboden ist nicht tiefgründig, tropische Bäume sind Flachwurzler und stützen sich mit ihren Brettwurzeln ab.Die nährstoffreiche Erdschicht wird rasch weg-geschwemmt, zurück bleibt unfruchtbares Land. Tropenwald wird wegen des Holzes ausgebeutet, bei der Goldgewinnung wird Quecksilber verwendet, das die Gewässer verschmutzt.

Der amazonische Tieflandregenwald ist lebenswichtig für das Weltklima. Es verdunstet dort täglich mehr Wasser und wird zu Wolken, als den Amazonas hinabfliesst. Der Amazonasregenwald ist überlebens-wichtig für die Erde und beherbergt zahlreiche noch unentdeckte Schätze. Die Urvölker im riesigen Ökosystem wissen längst davon.

 

Schmökerecke

[IMG 4] In den Tieflandregenwald Südamerikas kann man auch in der Schweiz eintauchen, beispielsweise mit dem Buch «Amazonien» von Katharina Vlcek, das im Berner Haupt-Verlag erschienen ist. Die Autorin und Illustratorin reiste nach Südamerika und skizzierte, notierte und fotografierte dort unzählige Einzelheiten. Sie war überwältigt von der Schönheit des Waldes. Ihre Eindrücke setzte sie in einem aus-sergewöhnlich schönen Buch um. Textpassagen kombiniert mit Illustrationen vermitteln alles Wissenswerte zu Amazonien, ganzseitige Illustrationen inspirieren zur gedanklichen Reise in den Regenwald
Katharina Vlcek: «Amazonien – Entdecke die Wunder des Regenwaldes»72 Seiten, Haupt-Verlag, Bern.